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Der Königssohn von Ägypten
Die Mose-Geschichte als Historiendrama
von Werner Hoffmann

I
Brütend lag die feuchte Luft über dem sumpfigen, schwarzen Land. Während vor einigen Wochen eine eher erträgliche, da trockene Hitze geherrscht hatte, stieg jetzt am Ende der Überschwemmungszeit von den schlammigen Feldern ein heißer, klammer Dunst auf. Mit dem Dunst kamen die Mücken. Legionen von Mücken, ausgebrütet in unzähligen Kanälen, Teichen und Sümpfen, von denen das Land am unteren Nil übersät war. Die unbarmherzigen Insekten fielen über Menschen und Tiere her und verschonten auch nicht den Mann, der nun mit langen, federnden Schritten dem Kanal zustrebte, der seine noble Villa mit dem Nil verband. Über seinem eng anliegenden Hemdkleid trug er einen reich verzierten Umhang. Um seinen schlanken Hals hatte er einen Halskragen aus schimmernden Perlen und bunten Edelsteinen gelegt. Seine Arme zierten breite, glänzende Goldreifen. Ein kleiner rundlicher Diener, nur mit einem Leinenschurz bekleidet, hatte Mühe ihm zu folgen. Mit einem Wedel ausgestattet, widmete er sich mit Eifer der Aufgabe die Mücken von seinem Herrn fernzuhalten, was ihm bei der Menge der quälenden Blutsauger aber nur schwerlich gelang. Ein Gärtner fuhr von den üppig blühenden Blumenrabatten am Wegesrand hoch und senkte ehrerbietig seinen Kopf, als er die große, beeindruckende Gestalt gefolgt von dem kleinen, geschäftigen Dicken an sich vorbeieilen sah: „Lange mögest du leben, hochedler Mose, Sohn der Königin Meriaton, königlicher Beamter und Domänenverwalter, wahrer königlicher Schreiber und oberster Verwalter der königlichen Bibliothek ...“ Abrupt verstummte er jedoch und sah seinem Gebieter kopfschüttelnd hinterher. Er hätte gewiss mit der Aufzählung der Titel fortgefahren, wenn sein Herr nicht so schnell an ihm vorbeigerauscht wäre. Aber der schien ihn heute nicht einmal zu bemerken.
Bald hatten sie die unter mächtigen Dattelpalmen befindliche Anlegestelle erreicht. Hier wartete eine kunstvoll gearbeitete, schlanke Barke. Die Besatzung – zehn Ruderer, ein Steuermann, vier Sänftenträger und zwei Mitglieder von Moses Leibwache – hatte ihre Plätze bereits eingenommen. Die nackten, muskulösen Oberkörper der Ruderer glänzten ölig in der Sonne, was von einer streng riechenden Salbe herrührte, mit der sie sich zum Schutz gegen die Mücken eingeschmiert hatten. Mose sprang gefolgt von seinem unverdrossen wedelnden Diener an Bord und stieß einen kurzen Befehl aus. Die Ruderer legten sich in die Riemen. Sofort schoss das elegante Boot vorwärts und gewann schnell an Fahrt. „Du kannst jetzt mit dem Wedeln aufhören, Peri“, sagte Mose und wandte sich mit einem belustigten Lächeln seinem Diener zu, der angestrengt gegen den Fahrtwind anzufächern versuchte. „Gewiss, Hoheit, ganz wie Sie wünschen.“ Umständlich steckte Peri seinen Wedel zusammen. „Was für eine Wohltat ist das heute auf dem Wasser.“ Mose streckte sein Gesicht dem Fahrtwind entgegen und genoss die erfrischende Luft auf seiner Haut. „Wahrlich, eine Wohltat“, echote der Diener, „und kaum Mücken gibt es hier, Hoheit.“ „Ja wirklich, Peri, kaum Mücken ...“ Aber die Unterhaltung kam nicht richtig in Gang, denn Mose schien ziemlich abwesend zu sein.
Das Boot fuhr nah am Ufer des Kanals entlang, das gesäumt war von dichtem Schilf und Papyrusgebüsch. Manchmal, wenn sich die grüne Pflanzenmauer öffnete, gab sie den Blick auf große Villengrundstücke frei, wo unter hoch aufstrebenden Dumpalmen gelbe Akazien erstrahlten. Mit weißen Steinplatten ausgelegte Wege schlängelten sich durch sattgrüne Wiesen, auf denen bunte Pfauen hochmütig stolzierten. Blauer Lotus, die heilige Blume des Sonnengottes Reh, wuchs im Schatten idyllischer Lauben. Blutrot blühende Granatapfelbäume spiegelten sich in künstlich angelegten Seerosenteichen. Fröhliches Vogelgezwitscher schallte vom Ufergebüsch herüber. In der Ferne lärmten Zikaden. Hier leben zu dürfen, weitab vom Lärm und Gestank der Stadt, war allerdings nur hohen Beamten des Königshauses vergönnt. Mose besaß dieses Privileg. Allerdings wohnte er erst seit kurzem hier. Gewöhnlich konnte er sich an der Schönheit dieser kunstvoll angelegten Parks nicht sattsehen. Heute schien er dafür aber keine Augen zu haben. Still und in sich gekehrt saß er da und nahm die atemberaubende Pracht der Gärten kaum wahr.

Bald erreichte das Boot, unter dem leisen rhythmischen Singsang der Ruderer, die Einmündung zum Nil. Jetzt, am Ende der Überschwemmungszeit, lag der Strom wie eine gewaltige Seenlandschaft vor ihnen. Barken, deren helle Segel sich vom Blau des Himmels abzeichneten, zogen in der Ferne vorbei. Dahinter erstreckte sich als schmales grünes Band der Uferstreifen, von dem Dumpalmen mit ihren zerzausten Fächer herüberzuwinken schienen. Anfangs prägten sattgrüne Oasen mit Dattelpalmen die Ufer des Flusses, dann fuhren sie an Wein- und Gemüsegärten vorbei. Dahinter flimmerte blass-gelb die endlose Wüste.
Nach einer Weile tauchten in der Ferne die Umrisse eines mächtigen Tempels auf. Die Barke passierte gewaltige  Kornspeicher, denen eine Ansammlung weiß gekalkter, kleiner Häuser folgte. Sie waren aus sonnengetrockneten Nilschlammziegeln errichtet, die nicht länger als dreißig oder vierzig Jahre hielten. Deshalb wurde ständig an ihnen herumgebaut, renoviert und erweitert. Feste Steine waren lediglich den prächtigen königlichen Palästen, den Tempelanlagen und den Grabmalen der Reichen und der Könige vorbehalten.


Die Barke hatte jetzt die gewaltigen Tempelanlagen des Gottes Ptah erreicht, des mächtigen Schöpfergottes, der auch zugleich Gott der Kunst und des Handwerks war. Er schien seinem Namen alle Ehre zu machen, denn der Tempel präsentierte sich als gigantische Baustelle. Hunderte Handwerker, Künstler, Arbeiter und Sklaven errichteten emsig Mauern und Säulen. Die Hammerschläge der Steinmetze und die Rufe der Bauleiter drangen bis zu Moses Boot herüber.
Mose, der sich sonst für Bauwerke interessierte, vermochte auch das zunächst nicht aus seinen Gedanken zu reißen, bis ihn die Flüche und Schimpftiraden eines Aufsehers erschrocken aufblicken ließen. Er zuckte zusammen, als er den seine Nilpferdpeitsche schwingenden Antreiber sah, der offensichtlich große Freude daran hatte, reichlich Gebrauch von seinem grässlichen Werkzeug zu machen. Mose fühlte Zorn in sich aufsteigen. Er fand es unmenschlich und unwürdig, wie hier die Arbeiter behandelt wurden. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte seine Barke stoppen lassen, um den Bauleiter zur Rede zu stellen. Wie viele seiner israelitischen Landsleute würden dort wohl unter diesen erbärmlichen, menschenverachtenden Verhältnissen schuften müssen? Er wusste es nicht. Viel zu lange hatte er sich nicht um die Belange seiner Landsleute gekümmert. Erst kürzlich war er vom Pharao hierher nach Men-nefer in den Norden versetzt worden, wo die meisten seiner Landsleute sich vor langer Zeit angesiedelt hatten. Zuvor war es ihm lange gelungen seine eigene Herkunft zu verdrängen, seine Wurzeln zu verbergen. Als er aber mit den unhaltbaren Zuständen, in denen seine Landsleute hier vegetierten, konfrontiert wurde, machte er sich insgeheim Vorhaltungen, so lange nichts für sie getan zu haben. Natürlich gab es auch in Theben, wo er noch bis vor kurzem gelebt hatte, die Versklavung von Arbeitern. Aber das hier waren seine Brüder. Männer und Frauen des Volkes Israel, dessen Angehöriger er auch war. Er nahm sich vor, seinen beträchtlichen Einfluss für eine Verbesserung der unsäglichen Arbeitsbedingungen der hebräischen Arbeiter geltend zu machen. Vielleicht konnte er das Thema demnächst beim Pharao ansprechen.
Obwohl seine Stellung im Reich hoch und sehr einflussreich war, machte er sich freilich keine Illusionen. Sein Verhältnis zum Pharao war nicht das beste. Der Pharao Haremhab, einst General und oberster Befehlshaber der ägyptischen Streitkräfte, hatte es geschafft nach erbitterten inneren Kämpfen den Königsthron zu besteigen. Viele hohe Beamtenposten besetzte er anschließend mit ehemaligen Militärs. Die griffen hart durch, um das Andenken an die vorangegangenen Könige Eje, Tuchanchamun und Echnaton mit allen Mitteln vergessen zu machen. Aber unter diesen Pharaonen hatte Mose bereits gedient. Fast vierzig Jahre lang hatte er in Theben gelebt, dieser unermesslich reichen, gewaltigen Totenstadt im Süden, über Jahrhunderte Zentrum des Reiches. Hier war er als Angehöriger der königlichen Familie aufgewachsen. Als Adoptivsohn der Tochter des Pharao hatte er das Privileg einer von König Echnaton persönlich beaufsichtigten Ausbildung genossen. Die berühmtesten Gelehrten und mächtigsten Priester des Reiches hatten ihn erzogen und geformt, ihn Geometrie, Astronomie und Medizin gelehrt und ihm die faszinierende Götterwelt des Gottes Amun-Re und der vielen hundert anderen Gottheiten erschlossen. In jahrelangem Studium hatte er sich die Hieroglyphen und die Alltagsschrift erschlossen, um die großen Werke der ägyptischen Wissenschaft studieren zu können. Er hatte gelernt, wie man Heere anführt und wie man Städte plant, er wusste, wie man die Bahnen der Sterne und die Statik eines gewaltigen Tempelbaus berechnete. Er war vertraut mit der komplizierten Hierarchie unter den siebzigtausend Priestern des gigantischen Amun-Tempels, mit seinen hunderten schlanken Säulen, zahlreichen Tortürmen, heiligen Seen, Alleen, Obelisken und Schatzhäusern einer der größten Tempel der Welt. Er hatte den Opfer- und Ritualpriestern zugeschaut und bei den Reinigungs- und Balsamierungspriestern gelernt. Er hatte mit den Vorlesepriestern diskutiert und war bei den Tempelverwaltern in die Lehre gegangen, um später selbst große Güter leiten zu können. Staunend hatte er die Reform Echnatons miterlebt, mit der sich der Pharao vom Jahrtausende alten Vielgötter-Glauben löste, um seine ganze Leidenschaft dem alleinigen Gott Aton, dem Gott des Lichts, zu widmen. Eine durchaus gewagte Reform, die denn auch später als Ketzerei verdammt werden sollte. Hunderttausende Priester hatten dagegen revoltiert. Mose jedoch hatte sich damals gefragt, ob Aton, dargestellt in der Sonnenscheibe mit dem Strahlenkranz, der Gott des Lebens, der Liebe und des Friedens, nicht auch der Gott sein könnte, an den er glaubte. Aber ihm war klar geworden, dass der Sonnengott andere Eigenschaften aufwies. Aton war fern und unerreichbar. Er stand als unpersönliches Licht über den Dingen. Der Gott seiner Väter aber verlieh den Menschen Würde, weil man mit ihm reden, ja sogar verhandeln konnte, wie Abraham es einst getan hatte.
Mose wandte sich nun, mit Blick zur riesigen Baustelle, zu seinem Diener: „Findest du es in Ordnung, Peri, wie man dort mit den Arbeitern umgeht?“„Es sind bestimmt nur diese schmutzigen Hebräer, die da geschlagen werden. Diese Ausländer haben sich hier sowieso viel zu breit gemacht. Außerdem glauben sie nicht an unsere Götter.“ „Was sagst du da, Peri?“ Der Diener tat erstaunt: „Hab ich was Falsches gesagt?“ „Ich will nicht, dass du so über diese Menschen redest. Ich verbiete es dir.“ Mose stieg die Zornesröte ins Gesicht. „Verzeiht vielmals, Hoheit.“ Der Diener verneigte sich unterwürfig. „Es soll nicht mehr vorkommen.“ Dass sich sein Herr schnell aufregte und manchmal sogar vom Zorn übermannt wurde, wusste er. Er stand schließlich schon länger in Moses Diensten. Aber dass er sich wegen dieser Hebräer so ereiferte, konnte er nicht nachvollziehen.
Langsam kam der Hafen in Sicht, wo sich unzählige kleine und große Boote und Barken tummelten. Schwerfällige Fähren überquerten den Strom, angetrieben von unzähligen Ruderern. Frachtkähne mit duftenden Früchten und frischem Gemüse wurden von Arbeitern entladen. Elegante Luxusjachten hoher ägyptischer Priester und Beamter lagen da. Etliche der Würdenträger räkelten sich unter schattigen Sonnensegeln, wo ihnen dunkelhäutige Nubier mit gewaltigen Fächern aus Straußenfedern Luft zuwedelten. Geschickt manövrierte der Steuermann die Barke zwischen zahlreichen Frachtkähnen an die Anlegestelle. Dann wurde die Sänfte an Land gehievt. „Warte hier, Peri“, befahl Mose, „ich möchte alleine sein.“ Ehrerbietig verbeugte sich der Diener vor dem hohen königlichen Beamten. Bald waren die Träger mit der prunkvollen Sänfte in der dichten Menschenmenge verschwunden.
Je weiter sie in das Gewirr der Straßen und Gassen eintauchten, desto stärker schwollen Lärm und Gestank an. An den Marktständen boten die Fischer ihre glitschigen Fänge in großen Körben an. Lebendige Nilfische zappelten in Wasserbehältern. Wolken fetter, schwarz-blauer Fliegen kündigten von der Nähe der Schlachter, die ihre Hammelhälften vor ihre Läden gehängt hatten. Darunter lagen stinkende Schlachtabfälle, die von verlausten Hunden durchwühlt wurden und in denen zerlumpte Bettler nach Essbarem stocherten. Schwankend bahnten sich die Träger den Weg zwischen Bergen von Unrat, den man einfach vor die Häuser gekippt hatte. Dazwischen wuselten Wasserverkäufer, die den Passanten die prall gefüllten Schläuche unter die Nase hielten. Der Tross bewegte sich nun über einen Platz, der erfüllt war vom Geschrei der Marktfrauen, die mit ihren schrillen Stimmen zarten Lauch, wohlriechenden Knoblauch, frische Zwiebeln, grüne Gurken, weiße und schwarze Bohnen anpriesen. Weiter ging es durch die Gasse der Kupferschmiede, in der es nur so dröhnte vom Hämmern der Handwerker. Die Träger hatten immer mehr Mühe, die Sänfte durch das dichte Gedränge der Menschen zu balancieren. „Platz da! Leute, macht Platz dem hochedlen Mose, Sohn der Tochter des Pharao, königlicher Beamter und Domänenverwalter, wahrer königlicher Schreiber und Verwalter der königlichen Bibliothek! Leute, macht Platz ...“
Allmählich veränderte sich das Aussehen der vorbeiziehenden Stadt. Die ein- bis zweistöckigen Ziegelhäuser wichen kleinen, windschiefen Hütten, hinter denen schon die Ausläufer der Wüste sichtbar wurden. Die Gruppe erreichte nun eines der Wohnviertel der Hebräer. Hier, am Rande der Wüste, war Mose geboren worden. Hier hatte er die ersten Jahre seines Lebens verbracht. Angestrengt suchte er jetzt nach Orientierungspunkten, nach irgendetwas, das er nach der langen Zeit wiedererkennen würde. Es hatte sich so viel verändert. Noch baufälliger wirkten die kleinen, oft mit Stroh gedeckten Schilfhütten, noch schmutziger die Gassen, noch staubiger die Gärten, deren Besitzer einen fast aussichtslosen Kampf gegen die vordringende Wüste führten. Mose war erschüttert von diesem Anblick:„Unfassbar, wie sie hier leben müssen“, murmelte er, „ich hatte es wirklich schon vergessen.“ Er sorgte sich darum, ob er seine Mutter noch lebend antreffen würde. Vor einigen Tagen hatte er die Nachricht erhalten, dass es ihr sehr schlecht gehe. Er hatte keine Ahnung, wie es sich so schnell bei seiner Familie herumgesprochen hatte, dass er jetzt hier in Men-nefer lebte. Sein Gewissen plagte ihn. Er hatte viele Jahre keinen Kontakt zu seinen Landsleuten gehabt, im weit entfernten Theben in unermesslichem Reichtum gebadet, während seine Familienangehörigen hier hart ums Überleben kämpfen mussten.

II
Mose war immer noch sehr aufgewühlt von dem, was er auf der Baustelle des Ptha-Tempels hatte mit ansehen müssen. Er fühlte sich schuldig. Mitschuldig an dem, was die Herrschenden seinem Volk antaten. Wie sollte er seiner Familie vor die Augen treten, seiner Schwester Mirjam begegnen, seinem Bruder Aron ins Gesicht sehen, von seiner Mutter Jochebed Abschied nehmen? Wieder gingen seine Gedanken zurück. Er sah sich als kleinen Jungen hinter ihren Hütten stehen, wo er Mirjam und den anderen Mädchen beim Reigen zuschaute: Mirjam wirbelte mit dem Tamburin herum. Anmutig schlug sie den Rhythmus, zu dem sich die Frauen und Mädchen bewegten. Wie schön sie sangen. Lieder voller Melancholie und Sehnsucht. Gesänge, die von der Befreiung des Volkes Israel handelten. In solchen Momenten vergaßen sie das Elend, waren sie beflügelt von der Hoffnung, dass Gott sie eines Tages befreien würde.

Auch seine Mutter tanzte in seiner Erinnerung. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Wie jung sie aussah, wenn sie sich im Reigen bewegte. Wie unbeschwert und leicht sie wirkte. Genau wie damals bei ihrem Freudentanz, als sie ihn, den kleinen Mose, wiederhatte. Mirjam hatte ihn zurückgebracht, nachdem die Tochter des Pharao den kleinen Jungen aus dem Nil gefischt hatte. Als kleiner Junge hatte er diese unglaubliche Geschichte immer wieder hören wollen. Wie sehr hatte er seine Schwester dafür bewundert. Sie war nicht nur eine großartige Künstlerin, sie war auch mutig und klug. Wer sonst wäre auf die Idee gekommen, den kläglich weinenden Jungen der Pharaonentochter noch einmal abzuschwatzen. „Dieses Kind ist hungrig, es muss sofort gestillt werden. Ich kenne eine Amme, die das tun könnte ...“ So war der kleine Mose wieder zu seiner Mutter gekommen, deren Glück aber nur wenige Jahre gewährt hatte. Eines Tages hatten ihn die Ägypter wieder abgeholt. „Sei jetzt tapfer, mein Sohn“, hatte seine Mutter gesagt. „Und vergiss den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs nicht.“ Dabei hatte sie ihn durch einen Schleier von Tränen hindurch angelächelt. „Du kannst uns bestimmt bald besuchen kommen.“ Doch das sollte eine frommer Wunsch bleiben. Denn der Pharao residierte damals noch in Theben, weit unten im Süden. Nur die Sommer verbrachte die königliche Familie im Norden, in ihrer prächtigen Residenz in Men-nefer, um der Wüstenhitze Thebens zu entfliehen. So war es auch damals gewesen, als ihn die kleine Tochter des Pharao aus dem Nil gefischt hatte. Ein paar Mal hatte er seine Eltern und Geschwister noch sehen können, aber dann hatte ihn die glänzende Welt des Könighauses in seinen Bann gezogen und ihn seiner hebräischen Familie immer mehr entfremdet. „Was willst du denn bei diesen stinkenden Schafhirten?“, hatte seine Adoptivmutter geschimpft, wenn ihn das Heimweh übermannte, „sie leben mit ihren Tieren zusammen in einem einzigen, schäbigen Raum, in dem es furchtbar stinkt.“
„Wo sollen wir uns hinwenden, Hoheit?“ Die Frage des Leibwächters riss Mose wieder in die Gegenwart. Er sah aus seiner Sänfte auf die schmutzige Straße hinaus. „Geht einfach langsam weiter!“ Aufmerksam ließ er seinen Blick über die verstaubten Hütten gleiten. Hier musste es doch sein. Dann sah er sie. Die Hütte, in der er vor 40 Jahren geboren wurde. Er sprang aus der Sänfte, noch bevor die Träger sie absetzen konnten. „Bringt die Kisten mit den Geschenken!“, fuhr er die Leibwächter an. „Stellt sie dort vor die Tür und wartet draußen auf mich!“
Mit gemischten Gefühlen stand er schließlich vor der mit Ziegenfellen verhängten Türöffnung. Plötzlich kam ihm sein ganzer Aufzug unpassend, ja lächerlich vor. Am liebsten wäre er jetzt umgekehrt. Seine prächtige Sänfte, deren mit Blattgold verziertes Dach in der Sonne glänzte, die reich verzierten Zedernholzkisten mit den Geschenken – das passte irgendwie nicht an diesen Ort, wo ein Teil der Lehmziegel bereits zerbröselte und die Ratten große Löcher in die Schilfwände genagt hatten. Mose verspürte den Impuls, die goldenen Armreifen von sich zu werfen und sich seines prächtigen Gewandes zu entledigen. Immer mehr wurde ihm bewusst, aus was für einer anderen Welt er doch kam. „Ist jemand da?“, fragte er zögernd. Nach einer Weile wurde das Fell zur Seite geschoben. Eine Frau trat unsicher nach draußen. Sie war mit einem einfachen hellen Leinenrock bekleidet und hatte lange dunkelbraune Haare. Ihre hellen Augen glichen den seinen. „Mirjam?“, fragte er verlegen, obwohl er sie gleich erkannt hatte. „Friede sei mit dir!“ Erstaunt schaute sie den prächtig gekleideten Mann an. „Ich bin es, Mose!“ „Mose?“, stammelte sie. Zögernd traten sie aufeinander zu.
Als sie sich schließlich umarmten, spürte Mose, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. „Mirjam“, stieß er immer wieder aus, „meine große Schwester“. „Du siehst ja unglaublich aus“, sagte sie, immer noch unsicher lächelnd, als sie sich voneinander gelöst hatten. „Und du bist wunderschön, Mirjam.“ „Komm rein!“ Leicht errötend schob sie die Felle zur Seite. „Ich habe gehört, dass es der Mutter schlecht geht.“ „Ja, es steht schlecht um sie. Sie wird wohl nicht mehr lange leben.“ Sie betraten einen niedrigen, halbdunklen Raum, in dem es nach Schafdung roch. Ein Geruch, der in ihm längst vergessen geglaubte Erinnerungen weckte.
„Kann ich sie sehen?“, fragte er unsicher. „Ja, komm!“ Mirjam zog ihn durch eine niedrige Öffnung in einen zweiten, noch dunkleren Raum. Dann beugte sie sich zu einer Gestalt herunter, die dort auf einige Schaffelle gebettet in der Ecke lag. „Mutter“, sagte sie leise, während sie zart über das dünne, weiße Haar der Kranken streichelte. „Mutter, Mose ist hier!“ Die alte Frau reagierte nicht. „Ich weiß nicht, ob sie mich noch hören kann.“ Sie warf ihrem Bruder einen besorgten Blick zu und wendete sie sich dann wieder zur Mutter: „Mutter, dein Sohn Mose ist zu uns gekommen!“ Jetzt konnte man eine leichte Bewegung der alten Frau ausmachen: „Mose?“, röchelte sie, hielt ihre Augen aber geschlossen. „Wo … wo ist er?“ „Hier Mutter! Hier direkt neben dir.“ Mose hatte sich vor das Lager gekniet und die dünne Hand der Mutter genommen. Besorgt und zärtlich betrachtete er sie. Nur noch wenig erinnerte ihn an die Frau, die er von früher kannte, jung und schön, stark und mutig, die ihn drei Monate lang vor den Spionen des Pharao verborgen hatte. „Mutter ...“, brachte er nur hervor. Ihm fehlten die Worte. Umso ergriffener hielt er ihre kleine, magere Hand. „Schau, sie schlägt die Augen auf“, flüsterte Mirjam verwundert, „das hat sie schon lange nicht mehr getan.“ „Friede sei mit dir – Mose ... mein Sohn!“ Mose beugte sich tiefer zu ihr herunter, um jedes ihrer leise hingehauchten Worte zu verstehen. „Friede sei mit dir, Mutter!“, entgegnete er mit brüchiger Stimme. „Gepriesen sei der Herr, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs!“, hauchte sie. „Ich bin so froh bei dir zu sein, Mutter.“ Auf einmal schien es, als ginge ein Ruck durch ihren müden, ausgemergelten Körper. Jetzt öffnete sie ihre Augen vollends und betrachtete ihren Sohn. Er kannte diesen Blick. Wehmut lag darin und Zärtlichkeit. Früher hatte sie ihn manchmal so angesehen, weil sie wusste, dass sie ihn nicht für sich behalten durfte, ihn bald wieder würde hergeben müssen. Mühsam legte sie ihre Hand auf seinen Arm: „Sei mutig und stark, mein Sohn – und steh unserem Volk Israel bei. Der Gott Israels segne dich!“ „Ja, Mutter, ich verspreche es dir.“ „Schau nur, ihr Gesicht!“, flüsterte Mirjam atemlos. Auch Mose nahm das Leuchten auf ihrem schmalen, eingefallenen Gesicht wahr. Es war, als ließe ein Lichtstrahl aus einer anderen Welt ihr Gesicht erstrahlen. Dann schloss sie die Augen und fiel kurze Zeit später in einen tiefen Schlaf. Schweigend und tief ergriffen verharrten die Geschwister noch eine Zeitlang vor ihrem Lager. „Sie hat so lange gewartet, um dir das noch sagen zu können. Komm, wir lassen sie jetzt schlafen.“ Sanft zog Mirjam ihren Bruder vom Lager der Mutter hoch.
Als sie zurück in den Wohnraum kamen, stand ihnen ein Mann gegenüber. Er war noch etwas größer als Mose. Sein nackter, muskulöser Oberkörper war von unzähligen Striemen gezeichnet. Blut tropfte zu Boden. „Aron, was haben sie mir dir gemacht?“, schrie Mirjam auf. „Aron, was ist passiert?“, stammelte auch Mose erschrocken. „Du fragst mich, was passiert ist? Ausgerechnet du? Du bist doch auch einer von ihnen!“, fauchte Aron ihn jedoch an. „Rede nicht so mit deinem Bruder“, rügte ihn Mirjam, während sie nach draußen eilte um ein sauberes Tuch zu holen. „Was sollen eigentlich all die prächtigen Kisten da draußen?“ Arons Stimme klang verächtlich. „Es … es sind Geschenke – für euch.“ „Oh, der Königssohn bringt uns ein wenig von seinem Überfluss. Du kannst deine Almosen gleich wieder mitnehmen!“ Abfällig schaute Aron seinem Bruder in die Augen. „Wir wollen deine Geschenke nicht!“ „Sei nicht ungerecht“, versuchte Mirjam zu vermitteln, während sie die Wunden ihres Bruders vorsichtig abtupfte. „Ungerecht?“ Aron wurde lauter: „Was weißt du eigentlich von uns? Du hast dich doch nie für uns interessiert. Weißt du eigentlich, wie uns die Ägypter behandeln, was sie uns antun?“ Beschämt senkte Mose den Blick. „Ja“, sagte er leise, „ich weiß es. Und es tut mir sehr leid, dass sie so mit euch umgehen.“ „So, es tut dem Königssohn leid? Mitleid war doch noch nie eine Tugend der Herrschenden!“ Aron echauffierte sich zunehmend. „Und warum änderst du nichts daran, wenn es dir doch so leidtut? Du hast doch nicht die geringste Vorstellung, wie es ist, wenn man den ganzen Tag schuften muss und dann auch noch von diesen verfluchten Aufsehern schikaniert und geprügelt wird wie ein Hund!“ Aron redete sich immer mehr in Rage. „Früher haben wir gehofft, du würdest deinen Einfluss dazu nutzen uns zu helfen. Unsere Situation wenigstens ein bisschen zu verbessern. Aber da haben wir uns getäuscht. Mose, du hast uns bitter enttäuscht! Du bist nicht besser als die anderen Ägypter.“ Mose war leichenblass geworden und fühlte, wie auch in ihm der Zorn aufstieg. Er war wütend darüber, derart respektlos angegriffen zu werden. Noch nie hatte es jemand gewagt, in diesem Ton mit ihm zu reden. Aber zugleich fühlte er auch Wut darüber, dass man seinen Bruder so zugerichtet hatte. „Rede nicht so mit mir, Aron!“, stieß er hervor. „Wie soll ich denn sonst mit dir reden? Soll ich vielleicht auf die Knie fallen und deine Füße lecken, wie sie es alle tun?“ „Aron!“, ging Mirjam dazwischen, „versündige dich nicht an deinem Bruder.“ „Er ist nicht mein Bruder, er ist ein elender Ägypter!“, schrie Aron, nun ganz außer sich. „Doch, ich bin dein Bruder. Das weißt du, Aron. Und ich schäme mich dafür, dass ich so lange nichts für euch getan habe. Ich verspreche dir, das wird sich ändern. Der Gott unserer Väter hat mir heute die Augen geöffnet. Ich werde mich jetzt um euch kümmern.“ „Ja, das wird er.“ Mirjam sah Aron flehentlich in die Augen, „er hat es der Mutter versprochen."

III
Mose eilte in Begleitung eines Dieners durch die endlosen Gänge der gewaltigen Palastanlage. Er war, obwohl ihm dieser Palast keineswegs fremd war, immer wieder geblendet von all dem königlichen Glanz. Flinke Bedienstete huschten über die Gänge. Höflinge und Beamte eilten in kostbaren Gewändern an ihm vorbei. Leibwächter standen unbeweglich wie Statuen herum, ihre prankenähnlichen Hände jederzeit kampfbereit auf ihre Schwerter gelegt.
Der Pharao wollte ihn heute nicht in seinem Audienzsaal, sondern in einem seiner Wohnräume empfangen. Mose betrachtete das als gutes Zeichen. Die Empfänge im großen Audienzsaal, bei denen der König gewöhnlich in vollem Ornat erschien – mit Doppelkrone, Krummstab, Geißel und Zeremonialbart –, liefen immer sehr förmlich ab und ermüdeten den Pharao in der Regel. Er wurde dann schnell ungeduldig, wenn sich die Gespräche in die Länge zogen. Mose wusste, dass der Pharao ihn wegen seiner Kompetenz und Loyalität schätzte. Als Königssohn hatte er eine viel umfassendere Ausbildung genossen als der Pharao selbst, der lediglich Erfahrungen als Heerführer vorzuweisen hatte. Doch Mose war auch klar, dass der Pharao über seine eigentliche Herkunft ebenso im Bilde war. Das würde seine Position heute nicht leichter machen. Wenn er etwas für seine Landsleute ereichen wollte, musste er sehr klug vorgehen.
Als sich die breiten Pforten der königlichen Gemächer öffneten, erklang Musik. Dumpf tönten Trommelschläge heraus. Silbrige Trompetenklänge schrillten die Gänge entlang. Die monoton klingende Stimme eines Herolds hob an: „Mose, Sohn der Königin Meriaton, königlicher Beamter und Domänenverwalter, wahrer königlicher Schreiber und oberster Verwalter der königlichen Bibliothek, königlicher Verwalter, glänzend in Wahrheit und Recht!“
Gemessenen Schrittes betrat Mose den großen Raum. Selbstbewusst ging er einige Schritte nach vorn, blieb dann aber stehen, um sich ein Bild von der Umgebung zu machen. Es waren etwa ein Dutzend Menschen anwesend. Er sah, dass sich der Raum zu einem weiten Park hin öffnete. Bunt leuchtende Blumenrabatten rahmten einen rechteckig angelegten Zierteich ein. Die Wände des Saales zierten farbenfrohe Malereien, die allerlei Tieren und Blumen zeigten. In der Mitte, halb dem Garten zugekehrt, stand ein ganz aus Gold gearbeiteter, prunkvoller Diwan. Darauf rekelte sich halb sitzend, halb liegend der Pharao: Gott-Mensch, höchstes Wesen auf Erden, dessen Wort Gesetz und dessen Entschlüsse unumstößlich waren. Sein heiliger, etwas fülliger Leib war angetan mit einem imposanten blauen, reich mit Goldstreifen verzierten Gewand. Da sich der König in einem seiner Wohngemächer befand, trug er nicht die Doppelkrone, sondern nur das blaugestreifte Königskopftuch. Neben ihm harrte ein herrisch wirkender, glatzköpfiger Priester. Mose erkannte ihn als den Hohepriester des Ptah. Er trug die Würdezeichen seines Amtes, einen fast bis zum Knöchel reichenden Schurz und die Schulterbinde um den nackten Oberkörper. Weitere Priester, die ihre öligen Oberkörper mit Leopardenfellen ausstaffiert hatten, standen mit ihren glattgeschorenen Köpfen im Hintergrund. Dienerinnen, goldene Trinkkrüge und große Alabasterschalen mit duftenden  Früchten auf ihren Händen balancierend, schritten in zarten, fast durchsichtigen Gewändern um den König herum. Zwei dunkelhäutige Nubier wedelten ihm mit riesengroßen Fächern aus Straußenfedern Luft zu. Ein Schreiber kauerte am Fußende des Diwans, die Papyrusrolle auf dem Schoß, das Schreibzeug griffbereit. In seiner Nähe stand auf einem kleinen Tisch das Modell des Ptah-Tempels. In einer Ecke saß eine nur spärlich gekleidete Harfenspielerin. Ihre zarten, in den Raum geworfenen Akkorde waren kaum zu hören.
Mose hatte blitzschnell erfasst, dass hier gerade eine Beratung über die umfangreichen Baumaßnahmen des Ptah-Tempels stattfand. Dieser Zufall konnte für sein Anliegen kaum von Vorteil sein. Waren doch viele seiner Landsleute zur Fronarbeit für diese gewaltige Anlage herangezogen worden. Das alles ging ihm durch den Kopf, als er sich zu Boden warf und mit seiner Stirn die blank polierten kühlen Steinplatten berührte. Er verharrte so lange in dieser Stellung, bis er die Stimme des Pharaos vernahm: „Komm näher, Mose!“ Der Angesprochene erhob sich. „Setz dich hierher!“ Der Pharao deutete auf einen Schemel, der in der Nähe seines Diwans stand. „Danke, Majestät“, sagte Mose und setzte sich. „Ptah-hutep gab uns gerade einen kurzen Bericht über die Fortschritte der Baumaßnahmen.“ Der König kam mit seiner hohen Fistelstimme gleich zur Sache. „Unsere größte Sorge ist, dass wir das Bauwerk nicht vollenden können, weil die Mittel knapp werden. Die Steuereinnahmen sind in letzter Zeit rasant zurückgegangen.“ „Das ist mir nicht verborgen geblieben, Majestät“, erwiderte Mose, der als königlicher Beamter für die Steuereinahmen der südlichen Gaue Verantwortung trug. „Es ist leider zu befürchten, dass viele Beamte die Gelder schlecht verwalten. Ich habe den Eindruck, dass die Inspektoren ihre herausragenden Vollmachten eher zur eigenen Bereicherung als zum Vorteil der königlichen Kasse nutzen. Selbst der von dir eingesetzte königliche Kommissar hat dagegen nicht viel ausrichten können. Überall, wo er hinkam, hatten andere schon abgegrast.“ „Das Reich verwildert immer mehr. Ich muss offenbar zu drastischeren Maßnahmen greifen!“ Das Gesicht des Königs verdüsterte sich: „Ich habe neulich sogar von Räubereien der in den südlichen Gauen stationierten Truppen gehört.“ Die Entrüstung ließ die hohe Stimme des Pharaos noch schriller werden. Wie er mit dieser Stimme früher seine Truppen hatte befehligen können, war Mose immer ein Rätsel gewesen. „Aber entschuldige, Mose, ich habe meinem königlichen Verwalter noch gar nichts zu trinken angeboten. Was wünschst du?“ „Milch bitte.“ „Milch!“ Haremhab fing schallend an zu lachen. „Du wirst deine wahre Herkunft wohl nie verleugnen können, Mose.“ Wieder lachte er. „Los, macht schon!“, blaffte er die Diener an, „bringt ihm dieses köstliche Getränk.“  Einige Dienerinnen eilten nach draußen. Mose bereute es insgeheim, Milch verlangt zu haben, auch wenn es ein allseits beliebtes Getränk war. Nun hatte er hatte dem Pharao doch wieder einen Anlass geliefert, ihn zu demütigen. Das ärgerte ihn. Aber er kämpfte den aufsteigenden Groll nieder und dachte an das Versprechen, das er seiner Mutter gegeben hatte. „Was hältst du  eigentlich von den Baumaßnahmen am Ptah-Tempel?“, wollte der Pharao wissen, als er sich von seinem Lachanfall erholt hatte. „Ich habe mir noch kein genaues Bild machen können, Majestät. Morgen will ich der Baustelle einen Besuch abstatten. Aber das, was ich vom Nil her sehen konnte, sah schon ziemlich beeindruckend aus.“ „Wenn ich auch noch etwas dazu sagen dürfte, oh Pharao?“, ließ sich jetzt der Priester vernehmen. „Selbstverständlich, rede, Ptah-hutep!“ „Natürlich weiß ich, dass die Mittel knapp sind.“ Der Priester fuhr sich mit der Hand über seinen kahlen Schädel. „Ich bin aber nicht bereit, für das Dach des Allerheiligsten ein anderes Material als reines Gold zu verwenden“, dabei wies er mit einem Stab auf einen Teil des kleinen Modells, „das würde dem hohen Ansehen des Gottes Ptah nicht gerecht werden.“ „Aber wo sollen wir denn bei der derzeitigen angespannten Finanzlage die Mittel dafür hernehmen?“, fragte der König ungeduldig. „Wir könnten eine Menge einsparen, wenn wir anstatt der gut bezahlten ägyptischen Arbeiter weitere Hebräer zur Fronarbeit rekrutieren würden. Es gibt doch in den nördlichen Gauen noch große Siedlungen von ihnen. Sie machen sich dort immer breiter und nehmen uns das sowieso schon knappe Weideland weg.“ Mose zuckte innerlich zusammen, ließ sich aber nichts anmerken. „Das ist allerdings keine gute Idee, hoch verehrter Ptah-hutep“, warf er ruhig ein. „Außerdem möchte ich an dieser Stelle auch einmal anmerken, dass die hebräischen Arbeiter schlecht behandelt werden.“ „Sie werden schlecht behandelt?“ Der König tat ahnungslos. Moses Stimme wurde schärfer: „Du scheinst deine Aufseher nicht im Griff zu haben, Ptah-hutep. Ich habe den Eindruck, dass die Peitschen bei ihnen recht locker sitzen. Neulich ist einer der hebräischen Arbeiter blutig geschlagen worden. Dagegen protestiere ich aufs Schärfste.“ „Pah, lächerlich, diese Hunde muss man schlagen.“ Der Priester lachte verächtlich auf. „Du kannst ja gerne protestieren, Mose. Ändern wirst du daran aber sicher wenig. Der Pharao will den Tempel ja schließlich auch bald vollendet sehen.“ Ptah-hutep grinste zum Pharao hinüber. Der lächelte düster, schwieg aber. Mose stand auf und machte einen Schritt auf Ptah-hutep zu: „Ich habe das Konzept für eine Steuerreform entwickelt. Wenn wir das durchführen, sollte von den zusätzlichen Steuereinnamen auch etwas für deinen Tempel abfallen.“ Der kahlköpfige Priester straffte sich und baute sich drohend vor Mose auf: „Diese Hebräer weigern sich, den allerheiligsten Gott Ptah zu verehren. Außerdem sind sie unzivilisiert und schmutzig. Man sollte sie allesamt zu Sklaven machen!“ Mose wurde blass: „Wie redest du über diese Menschen, Ptah-hutep?“ Seine Augen blitzten auf und seine Fäuste ballten sich. Nur mühsam konnte er sich beherrschen. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte diesen Priester niedergeschlagen. „Beruhige dich doch, Mose“, lenkte der Pharao listig ein. Er wusste, dass er mit Mose einen überaus fähigen Regierungsbeamten hatte. Es war ohnehin schon schwierig genug, die zentralen Stellen mit loyalen und gegen Korruption gefeiten Männer zu besetzen. „Wir werden in dieser Frage sicherlich zu einer Lösung kommen.“ Aber der Hohepriester fühlte sich in der stärkeren Position. Schließlich war der Pharao ja nur mit Hilfe der einflussreichen Priesterschaft an die Macht gekommen. Ein stolzes, überlegenes Lächeln umspielte Ptah-huteps Lippen. Er hatte den Entschluss zur Umsiedlung tausender junger Hebräer längst gefasst. Und der König würde ihm dabei helfen, seinen Plan auszuführen. Dessen war er sich ganz sicher. Mose hingegen wusste, dass er sich den einflussreichen Priester nunmehr zum Feind gemacht hatte.

IV
In dieser Nacht schlief Mose schlecht, nicht nur wegen der Hitze und einiger Mücken, die trotz aller Vorsichtsmaßnahmen in seine Gemächer gelangt waren und ihn fast in den Wahnsinn trieben. Pausenlos kreisten seine Gedanken um das Treffen beim Pharao. Er hatte für seine Brüder und Schwestern eine Lanze brechen wollen, nun hatte er offensichtlich genau das Gegenteil erreicht. Er hatte den Einfluss des mächtigen Priesters unterschätzt. So war das Gespräch schließlich immer mehr aus dem Ruder gelaufen. Mose hatte die Audienz schließlich verärgert und enttäuscht verlassen, ohne sein Konzept für seine Steuerreform ausreichend darlegen zu können. Er hatte also noch nichts für seine Landsleute erreichen können. Unausgeschlafen und frustriert stand er schließlich von seinem Lager auf. Es war noch früh. Er trat vor die Tür und genoss für einen Moment die erfrischende Kühle des hereinbrechenden Morgens. Es würde ein heißer Tag werden. Moses befahl, sein Gespann anzuschirren, und ließ sich von seinem Diener das Essen bringen: frisches, noch warmes Fladenbrot mit Honig, Feigen, Datteln mit etwas kaltem Hähnchenfleisch. Aber er hatte keinen Appetit, kaute nur lustlos auf seinem Frühstück herum und spülte alles mit etwas Milch herunter. „Ist das Gespann vorbereitet, Peri?“, fuhr er missmutig seinen Diener an, als der die Reste abräumte. „Ja, Hoheit!“ Der Diener eilte nach draußen. „Die Pferde scharren schon mit den Hufen!“, rief er dann mit vollem Mund. Er hatte der Versuchung nicht widerstehen können, sich schnell einen Teil des fast noch vollständigen Frühstücks einzuverleiben. „Sie sind wohl lange nicht mehr bewegt worden.“ „Du solltest dich besser auch mal mehr bewegen. Sonst passt du irgendwann nicht mehr durch die Tür.“ „Ich werde gleich wunderbar kochen, Hoheit, und mich dabei ganz viel bewegen.“ Mose grinste, als er nach draußen eilte: „Wahrscheinlich werden es vor allem deine Unterkiefer sein, die sich viel bewegen.“ Man konnte diesem Diener einfach nicht böse sein.
Als Mose zu seinem Gespann kam, tänzelten die beiden edlen Hengste schon voller Ungeduld auf der Stelle. Der Stalldiener hatte Mühe, sie in Schach zu halten. Mose sprang auf den Wagen, der sofort vorwärts schoss. Allmählich ließ die Müdigkeit nach. Auch die Enttäuschung des vergangenen Tages legte sich langsam. Mose genoss die rasante Fahrt am Rand der Wüste. So schnell würde er seinen Plan nicht aufgeben. Mose hatte es gelernt, die Pferde selber zu führen, und benötigte daher keinen Wagenlenker. Gewöhnlich benutzte er das Gespann um Antilopen oder manchmal sogar Löwen zu jagen. Heute jedoch wollte er sich an der Baustelle des Ptah-Tempels umsehen und sich einen Eindruck von der Lage seiner Landsleute dort verschaffen.
Lange würden die Pferde den rasanten Galopp nicht durchhalten. Mose drosselte das Tempo. In gemütlichem Trab ging es weiter. Sie näherten sich einer Wasserstelle, an der Hirten ihre schwarzen Ziegen tränkten. Palmen wiegten sich im Wind. Saftiges Grün umgab das Wasserloch wie ein dicht gewebter Teppich. Scheu wichen die Nomaden mit ihren Tieren zur Seite, als sich ihnen der Streitwagen in einer Staubwolke näherte. Mose beachtete sie jedoch kaum und war schnell wieder verschwunden.
Nach einer Weile zeichneten sich in der Ferne die Umrisse der monumentalen Tempelanlage ab. Hoch ragten ihre Säulen und Tortürme in den Himmel. Bald war Mose umgeben von Lärm und Staub und von Hunderten von Arbeitern und Sklaven, die Steine und andere Baumaterialen schleppten. Ochsenkarren knarrten und ächzten unter ihren schweren Ladungen. Der Lärm war unbeschreiblich: Befehle und Schreie der Aufseher erfüllten die Luft und vermischten sich mit dem Schimpfen und Stöhnen der Arbeiter. Dahinter war das Schlagen und Hämmern der Steinmetze zu hören. Das Klatschen einer Peitsche ließ Mose aufmerken. Ein Karren war in einem Loch stecken geblieben. Der kleine, feiste Peitschenschwinger drosch unbarmherzig auf die Zugtiere ein. „Los, den Karren abladen!“, befahl er schließlich den Arbeitern, die sich an den Speichen abrackerten und mit aller Kraft versuchten, den Wagen freizubekommen. Unablässig prügelte er auf die geschundenen Tiere ein. Mose war entsetzt. Langsam näherte er sich dem Ochsengespann. „Die Tiere können doch nichts dafür. Warum schlägst du sie fortwährend?“, fuhr er den Aufseher an. „Ich würde viel lieber diese Dummköpfe hier meine Peitsche schmecken lassen“, brüllte der mit einem Blick auf die anderen Arbeiter. „Ihr Idioten! Habt ihr denn das Wasserloch nicht gesehen? Elendes Pack! Nun macht schon! Schafft die Steine vom Wagen herunter!“ Eilig begannen die Männer mit ihrer schweren Arbeit. Mose hörte sie in ihrer hebräischen Muttersprache leise schimpfen. „Was habt ihr da zu tuscheln, Hebräerpack!“ Unversehens schlug der Aufseher in das Gesicht eines alten Mannes. Der Hieb warf den Alten zu Boden. In dem würdevollen, von Falten zerfurchten Gesicht zeigten sich blutige Striemen. „Du wagst es, diesem alten Mann ins Gesicht zuschlagen?“ Mose war außer sich. Der Aufseher, der den Gespannführer als hohen ägyptischen Staatsmann erkannt hatte, schaute verblüfft hoch. Er hatte gedacht, diesem einflussreichen Ägypter mit Grausamkeit imponieren zu können. „Warum tust du das? Wer hat dir erlaubt diese Leute zu schlagen?“ „Der Hohepriester will es so!“ Ein überlegenes Grinsen erfüllte nun sein etwas dümmlich wirkendes Gesicht. „Er hat angeordnet, dass wir diese verdammten Hebräer viel härter rannehmen sollen.“ Mose fühlte Zorn in sich aufsteigen: „Wann hat er das denn angeordnet?“ „Heute morgen!“ Mose zuckte zusammen. „Er meinte, es sei nicht so schlimm, wenn einige dabei draufgehen. Er werde dafür sorgen, dass wir bald neue, unverbrauchte Hebräer bekommen.“ Währenddessen erhob sich der geschlagene Alte vom Boden. Blut lief von seinen Wangen, tränkte seinen schneeweißen Bart, tropfte von dort zu Boden. Zornig reckte er seine Hand hoch: „Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs wird dich strafen! Sein Zorn komme über dich!“ Dann drehte er sich um und ging davon. Nach ein paar Schritten wandte er sich noch einmal um: „Gott wird sein Volk befreien. Ja, er wird Israel bald erlösen!“ Mose lief ein Schauer über den Rücken. Er bewunderte den Mut dieses Mannes. Auch der Aufseher hatte verblüfft seine Peitsche sinken lassen. Fassungslos stand er eine Weile einfach nur da. „Dieses Schwein!“, schrie er, als sich seine Verwunderung gelegt hatte, „haut einfach ab! Dieses faule Hebräerschwein will sich vor der Arbeit drücken!“ Dann rannte er hinter dem alten Mann her, kam aber wegen seiner enormen Körperfülle kaum von der Stelle. „Bleib stehen, du verdammter Hebräer!“, konnte man ihn von weitem rufen hören. „Geht nach Hause, Männer“, wies Mose die Männer an, die dieser Szene ängstlich beigewohnt hatten.“ „Aber wir können doch nicht einfach ...“ „Doch, das könnt ihr. Wenn euch jemand Schwierigkeiten macht, dann sagt, dass Mose, der Sohn der Königin Meriaton, euch freigegeben hat.“ Verblüfft entfernten sich die Männer mit dem  freigekommenen Ochsenkarren.
Mose wendete wütend sein Gespann. Die Hengste schnaubten und wieherten. Staub wirbelte auf.  Jetzt musste er sich um den Alten kümmern. Womöglich würde ihn der Aufseher doch noch einholen. Mose ließ seinen Blick über den Horizont gleiten. Aber er sah die beiden nicht mehr. So weit konnten sie doch nicht gekommen sein. Er trieb die Pferde weiter an und hielt auf eine mächtige Sanddüne zu, hinter der er den Alten vermutete. Eingehüllt in Schwaden aus Staub und Sand raste das Gespann die Düne hoch. Es war eine tollkühne Fahrt. Als die Räder auf dem Kamm der Düne für einen Moment den Kontakt mit dem Boden verloren, wäre Mose beinahe aus dem Wagen geschleudert worden. In rasantem Tempo ging es die Düne hinunter. Dann endlich erblickte er den Aufseher. Mit Entsetzen sah er, wie der mit seiner Peitsche auf den alten Mann einschlug, der vor ihm zitternd auf den Knien lag. Mose stieß einen Schrei aus, riss an der Leine, konnte aber die wild dahingaloppierenden Rappen erst nach einigen Sekunden zum Stehen bringen. Er wendete scharf und hielt jetzt direkt auf den Aufseher zu. „Was tust du da, elender Hund!“ Wutentbrannt sprang er vom noch fahrenden Wagen, der erst allmählich zum Stehen kam. Der Zorn durchfuhr alle seine Glieder und raubte ihm die Besinnung. Er riss dem Aufseher die Peitsche aus der Hand und schlug sie ihm mit voller Wucht ins Gesicht, so dass der Aufseher zu Boden ging. „So fühlt es sich an, wenn man einem ins Gesicht schlägt. Merk dir das, du abscheulicher Menschenschinder!“ Mühsam kam der Mann wieder auf die Beine und begann zitternd die Düne nach oben zu stolpern, fiel und kullerte durch den Sand wieder herunter. Als er erneut aufgestanden war, schlug ihn Mose mit der Faust zu Boden. „Habt Erbarmen“, winselte der Aufseher, „ich habe doch  nur diesen verfluchten Hebräer geschlagen.“ Jetzt war Mose über ihm. Rasend vor Wut schlug er erneut zu, schlug mit aller Kraft auf ihn ein, immer wieder, wie im Rausch. „Ihr schlagt ihn tot, Herr!“ Der Alte rang die Hände. Er war ebenfalls blutüberströmt. „Herr, haltet doch ein!“ Hautfetzen hingen vom geschundenen Rücken des Alten herunter, so dass an einigen Stellen das rohe Fleisch zu sehen war. „Ihr schlagt ihn ja tot!“
Endlich kam Mose schwer atmend zu sich. Sah das Blut an seinen gefühllos gewordenen Händen, schaute in das entstellte Gesicht des Aufsehers, das nur noch aus einer unförmigen, breiigen roten Masse bestand. Ein leises Röcheln drang daraus hervor. Es war das Röcheln eines Sterbenden. Ein Röcheln, das Mose bis in seine Träume verfolgen würde. Er war leichenblass geworden und begann zu zittern. „Komm! Nicht sterben!“, hörte er sich mit rauer Stimme sagen. „Ich wollte dich nicht töten.“ Wie betäubt kniete er neben dem Sterbenden, bemerkte nicht einmal, wie der Alte davonhumpelte. Lange kniete er da. Fassungslos über das, was hier geschehen war.
Ein heißer Wind wehte von der Wüste herüber. Er hatte bereits eine feine Sandschicht über die Leiche gelegt. Wie lange hatte Mose bei dem Toten gekniet? Er begann mit bloßen Händen den Sand beiseite zu schieben. Er musste sich beeilen. Jeden Moment konnte jemand vorbeikommen. Bald hatte er eine Kuhle ausgescharrt, tief genug, um die Leiche darin verschwinden zu lassen. Er wuchtete den schweren, leblosen Körper hinein und bedeckte ihn notdürftig mit Sand. Dann schaute er sich um und erschrak, denn es war ihm, als hätte er oben auf der Düne ein Gesicht gesehen. Hatte ihm jemand zugeschaut? Er rannte die Düne hinauf, sah aber niemanden. Er musste sich wohl geirrt haben. Der Wind, der den Sand über der Düne beständig aufwirbelte, würde seine Spuren bald verwischen.
Er nahm denselben Weg zurück. Wie in Trance erreichte er das Wasserloch, tränkte die Pferde und ließ sie grasen. Noch immer war er allein. Er wusch sich das Blut von den Händen und versuchte die Blutflecken von seinem Rock zu entfernen. Dann setzte er sich unter eine Palme. Stundenlang, wie erstarrt, verharrte er in ihrem Schatten. Allmählich kam er zu sich. Niemand durfte je davon erfahren, was er getan hatte. Für Ptha-hutep würde es ein Leichtes sein, beim Pharao einen Prozess gegen ihn anzustrengen. Dann könnte er nichts mehr für sein Volk Israel tun. Er machte sich schwere Vorwürfe. Warum hatte er sich nur dazu hinreißen lassen, den Aufseher derart zu schlagen? Warum bekam er sein Temperament nicht in den Griff? Insgeheim hatte er schon davon geträumt, der Befreier Israels zu werden, der Retter seiner Landsleute. Lächerlich! Geradezu vermessen kam es ihm jetzt vor. Er hatte sich für diese Aufgabe als unwürdig erwiesen. Er hatte einen Menschen totgeschlagen.  
Das Geblöke von Schafen und Ziegen riss ihn aus seinen Gedanken. Mose sah einen uralten Hirten, der sich auf einen Stab gestützt müde der Oase näherte. Was für ein friedliches Bild war das, wie er da im Licht der tief stehenden Sonne leise mit den Tieren sprach, während er ihnen Wasser in die Tröge goss. Er wirkte beinahe wie ein Vater, der sich liebevoll um seine Kinder kümmert. Für einen Moment beneidete Mose ihn und hätte zu gern sein kompliziertes Leben gegen das einfache Dasein dieses alten Viehhirten eingetauscht. Es war zum Verzweifeln. Jetzt, wo er mit vierzig Jahren endlich seine eigentliche Berufung erahnte, schien er sie auch schon wieder verloren zu haben.
Der Hirte entfernte sich. Mose sah, wie sich seine Umrisse gegen die untergehende Sonne abzeichneten. Würdevoll, fast stolz schritt er mit seinen Tieren dem Horizont entgegen.

V
In einem verlassenen Unterstand in der Nähe eines Wasserlochs wartete Mose den Abend ab. Er war erschöpft. Erst im Schutz der Dunkelheit würde er weiterlaufen. So wie in der letzen Nacht. Weiter nach Osten! Immer weiter in die Wüste hinein. Hier war er sicher. Hier würden sie nicht nach ihm suchen, denn hier überlebte niemand lange, wenn er nicht Nomade war. Aber er hatte keine Wahl.
Der scharfe Wind schwoll im Laufe des Vormittags immer weiter an. Schließlich drang das Sonnenlicht nur noch fahl durch die gelbe, mit Sand geschwängerte Luft. Dann brach der Sturm los. Er wehte den glutheißen Sand durch alle Ritzen des Verschlages herein. Er brannte in Moses Augen und machte ihm das Atmen schwer. Er hockte sich in eine Ecke, zog sich ein Teil seines Rocks über Mund und Nase und hing seinen Umhang über den Kopf. Lange saß er da, bewegungslos, während der Sandsturm über ihn hinwegbrauste. Nur die Gedanken in seinem Kopf rasten. Unablässig quälten sie ihn.
Der Sturm brüllte stundenlang. In der Nacht würde er sich legen, hoffte Mose, der sonst nicht würde weiterlaufen können. Am späten Nachmittag überkam ihn abgrundtiefe Traurigkeit. Sie legte sich auf seine Seele wie ein schwarzer Schatten, brannte in seinem Innern, schmerzte, als würde sein Herz von spitzen Dornen verwundet. Bleischwere Müdigkeit kam hinzu. Er fiel in eine Art Dämmerzustand, aber seine Gedanken drehten sich weiter. Zwischendurch übermannte ihn der Schlaf. Im Traum sah er seine Mutter. Sie starrte ihn entsetzt an, ihre Augen weit aufgerissen. Die Traurigkeit ließ ihn nicht los. Auch der Schlaf brachte kein erlösendes Vergessen. Als er erwachte, war sein erster, erschütternder Gedanke, dass er sein Versprechen der Mutter gegenüber nie mehr würde einlösen können. Die Resignation drang wie ein glühendes Messer in seine Seele, bereitete ihm Schmerzen, stürzte ihn in neue, bodenlose Tiefen.
Als die Dämmerung hereinbrach, legte sich der Sturm endlich. Mose blieb noch eine Zeitlang auf dem Boden liegen, gelähmt von übergroßer Verzweiflung. Er konnte immer noch nicht fassen, was passiert war: Am Tag, nachdem er den ägyptischen Aufseher erschlagen hatte, war er noch einmal auf der Baustelle gewesen. Da er möglichst unauffällig hatte bleiben wollen, hatte er sich mit seiner Barke bringen lassen. Er war allein zur Baustelle gegangen, hatte sich alles noch einmal ansehen und dann den Hohenpriester aufsuchen wollen. Vielleicht konnte er ihn ja zur Vernunft bringen. Auf dem Weg zur Baustelle war es dann passiert. Er hatte einen Streit von zwei jungen hebräischen Männern schlichten wollen und sie zurechtgewiesen. Doch zu seiner Verwunderung setzten sie sich frech über seine Autorität hinweg. Er solle sich hier nicht zum Richter aufspielen, hatte der eine gehöhnt, und ob er ihn vielleicht auch umbringen wolle, wie den Ägypter gestern. Der Schock hatte ihn unerwartet getroffen. Es hatte sich angefühlt, als wäre ein Felsblock gegen seine Brust geschleudert worden. Als er dann zu seinem Boot zurückgeschlichen war, hatte er schon die Soldaten gesehen, die dort auf ihn warteten.
Mose fuhr aus seinem Dämmerzustand hoch. Was war das? Leise stand er auf und lauschte in die Dämmerung hinaus. Er hörte entfernt Stimmen. Waren ihm die Soldaten bis hierher gefolgt? Er musste hier weg, und zwar schnell. Die Stimmen kamen näher. Mose spähte in die Richtung, aus der sie kamen. Noch schienen die Ankommenden ihn nicht bemerkt zu haben. Er schlich nach draußen und suchte Deckung an der Rückseite des Unterstandes. In einiger Entfernung machte er ein paar dürre Sträucher aus. Bis dorthin müsste er es schaffen. Dann würde er weitersehen. Er rannte los, stolperte, raffte sich auf und lief weiter. Endlich ließ er sich hinter einen der niedrigen Dornbüsche fallen. Er wartete, bis sich seine Atmung beruhigt hatte. Jetzt spürte er schmerzhaft den Durst. Seit gestern hatte er nichts mehr getrunken. Bevor er an diesem Abend weitergehen wollte, hatte er noch am Wasserloch trinken wollen. Jetzt war es zu spät dafür. Vorsichtig bewegte er sich zum nächsten Gestrüpp. Dann sah er die Kamele. Sie standen mit ihrer Last um das Wasserloch herum. Händler also, auf dem Weg in die ägyptischen Metropolen am Nil, dachte er. Aber er durfte sich ihnen auf keinen Fall zeigen. Sie könnten ihn verraten. Eine Zeitlang blieb er noch liegen, wartete die Dunkelheit ab. Dann würde er weiterlaufen, sich mithilfe der Sterne nach Osten orientieren. Vielleicht könnte er irgendwo bei einem einsamen Nomadenstamm überleben. Als es dunkel war, ging er los. Solange der Mond schien, konnte er gut sehen.
Die Wüste erschien endlos. Irgendwann kam die Müdigkeit, überfiel ihn mit aller Macht, raubte ihm die Kraft. Er kämpfte mit aller Mühe gegen den Schlaf an, zwang sich weiterzugehen, widerstand der übermächtigen Sehnsucht sich hinzulegen. Er wusste, dass es gefährlich wäre. Zu leicht könnte er im Schlaf von einem wilden Tier überwältigt werden. Wie in Trance schleppte er sich weiter. Dann verschwand der Mond blass hinterm Horizont und tiefe Dunkelheit umgab Mose. Die Sterne zeigten ihm zwar die Richtung, aber er konnte seine Umgebung kaum noch wahrnehmen. Ein paar Mal stolperte er über irgendetwas und wäre am liebsten liegen geblieben. Doch er zwang sich immer wieder aufzustehen. Weiter! Manchmal verfing er sich in einem Dornengestrüpp. Die Dornen rissen seine Arme auf, schnitten in seine Hände. Jeder Schritt wurde zur Qual. Um sich wach zu halten, fing er an halblaut vor sich hin zu reden. Dann murmelte er verstört Gebete, die ihm einst seine Mutter beigebracht hatte: „Du bist unsere Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit ...“  
Im Morgengrauen tauchten vereinzelt halbhohe, stachelige Akazien vor ihm auf. Die Wüste ging in eine Art Steppe über. Einige Male schien es ihm, als hätte er den Dung von Schafen oder Ziegen gerochen. Als die Sonne aufging, setzt er sich unter eine halb verdorrte Akazie. Er wollte nur einen Moment ausruhen, den schmerzenden Rücken gegen den Stamm lehnen.
Als er wieder erwachte, war es hell und glühend heiß. Seine Zunge klebte am Gaumen. Er versuchte zu schlucken, aber sein Mund war vollkommen ausgetrocknet. Ein übermächtiger Schmerz bohrte und stach in seinem Kopf. Der Durst war unbeschreiblich. Die Sonne stand senkrecht über ihm und brannte auf sein Panzerhemd. Die Schuppen klebten an seiner Haut und schienen zu glühen. Er versuchte die Augen zu öffnen, aber die Augenlider klebten in den Augenhöhlen fest. Nur mühsam gelang es ihm. Alle Kraft schien aus seinem geschundenen, ausgetrockneten Körper gewichen zu sein. Er versuchte aufzustehen, aber die Beine gehorchten ihm nicht. „Ich verdurste! Ich – ich will nicht verdursten ...“ Schließlich schaffte er es, sich mit Hilfe eines dornigen Astes hochzuziehen. Das Blut an seinen aufgerissenen Händen bemerkte er nicht einmal. „Wasser! Wasser!“ Er torkelte ein paar Schritte vorwärts, stolperte, fiel auf den steinigen, glühend heißen Boden, blieb dort liegen, unfähig sich zu bewegen.
Wieder der Geruch von Schafdung. Schafe! Er versuchte sich seiner Gedanken zu bemächtigen, zwang sie, ihm zu gehorchen. Wo war er? „Oh, mein Kopf ...!“ Wie aus weiter Entfernung hörte er sich stöhnen. „Schafe – Wasser!“ Die Hoffnung einen Brunnen zu finden, ließ ihn wieder zu sich kommen. Unendlich langsam stand er auf, stand eine Weile schwankend da und tat dann einen Schritt. Er taumelte. Jetzt nicht aufgeben, nur nicht zusammenbrechen. Weiter! Jeder Schritt bereitete ihm Qualen. Die Hitze war unbeschreiblich. „Gott, lass mich nicht verdursten!“ Im Schatten eines Baumes blieb er stehen, stütze sich mit der Hand am rauen Stamm ab. Nur einen kurzen Moment lang ausruhen. Sein Blick glitt über den Horizont. Er legte seine Hand über die Augen, schaute über die vor Hitze flimmernde Steppe. Dann sah er sie. Weit hinten am Horizont standen sie. Palmen! Hatte er je etwas Schöneres gesehen? Er wollte schreien, in Jubel ausbrechen, brachte aber nur ein heiseres Krächzen hervor.
Als er den Kopf in den hölzernen Wassertrog steckte und trank, wusste er nicht mehr, wie er es geschafft hatte, hierher zu gelangen. Wie es ihm gelungen war, das Gefäß aus dem Brunnen zu ziehen. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchfuhr ihn. Im Schatten einer Dattelpalme schlief er erschöpft ein, erwachte irgendwann, trank erneut, um sofort traumlos weiterzuschlafen. Als er zu sich kam, dämmerte es bereits. Er aß ein paar Datteln, wusch sich, säuberte so gut es ging seinen nicht mehr ganz so erhaben wirkenden Umhang und seinen Rock. Dann setzte er sich etwas weiter zurück und wartete. Er wusste, dass sie früher oder später kommen würden, um ihre Tiere zu tränken. Er musste nicht lange warten. Zuerst vernahm er ungeduldiges Blöken und Meckern. Dann hörte er die Stimmen. Waren das nicht Mädchen, die da lachten und kicherten? Er traute seinen Augen kaum und zählte erstaunt sieben junge Mädchen, einige von ihnen noch halbe Kinder. Ihre Haut war dunkel, so dunkel wie ihre Augen. Natürlich hatten sie ihn auch bemerkt. Ein ägyptischer Mann, hier in der Einsamkeit der Steppe? Seltsam und aufregend war das. Vor allem aufregend. Eine angenehme Abwechslung in ihrem sonst so monotonen Alltag. Mose bemerkte, wie sie über ihn tuschelten, ihm heimlich scheue Blicke zuwarfen und dabei unbeschwert plauderten, scherzten und lachten. Mose war hingerissen von ihrer Leichtigkeit, ihrer kindlichen Unschuld. Er lächelte still vor sich hin. Für einen Moment fiel die Schwere von ihm ab. Wie unterschieden sich diese Mädchen doch in ihrer natürlichen Anmut von den prächtig gekleideten und mit Gold behängten Frauen, die er kannte. Eines der Mädchen, offenbar das älteste, weckte seine besondere Aufmerksamkeit. Vielleicht weil sie umsichtiger, liebevoller mit den Tieren umging? Oder war es die Art, wie sie mit ihren sicheren, ruhigen Anweisungen und Gesten die Verantwortung für die Herde ausübte? Außerdem schien sie, zumindest aus der Entfernung betrachtet, sehr schön zu sein.
Auf einmal drang aus der Ferne Lärm an sein Ohr. Unvermittelt tauchten in einer Staubwolke Ziegen und Schafe auf. Es schien, als würden sie um ihr Leben zu rennen, so schnell bewegten sie sich auf den Brunnen zu. Hinter ihnen rannten Männer her, die die Tiere grölend mit langen Stöcken traktierten. Erschrocken wichen die Mädchen zurück. „Da ist schon Wasser drin!“, rief der Erste, „kommt, Männer, es sind nur Weiber hier!“ Rücksichtslos trieb er die fremden Schafe zur Seite. Inzwischen waren auch die anderen Hirten angekommen. Johlend verschafften sie sich Platz. Mose, der die Szene mit wachsendem Groll betrachtete, konnte irgendwann nicht länger zusehen. Er sprang auf. Mit wenigen Sprüngen war er am Brunnen. „Diese Mädchen waren zuerst hier. Was fällt euch ein, sie einfach wegzudrängen!“ Wütend baute sich Mose vor einem der Hirten auf: „Los, verschwindet!“ War es das unerwartete Auftauchen eines leibhaftigen Ägypters, der mit seinem emaillierten, goldgefassten Panzerhemd ungeheuren Eindruck auf sie machte, oder war es sein mutiges Auftreten? Jedenfalls traten die Männer kleinlaut den Rückweg an. Aufmunternd lächelte Mose den verängstigen Mädchen zu. „Ihr könnt eure Tiere jetzt tränken!“ Dann ging er zum Brunnen und begann Wasser nach oben zu ziehen und in die Tröge zu gießen. Bald wuselten Lämmer und Schafe um seine Beine herum und die Mädchen begannen wieder mit ihrem fröhlichen Geplapper. Mit einem Mal stand die Anführerin vor ihm. „Danke!“, sagte sie verlegen. „Danke, dass du uns geholfen hast.“ Jetzt, wo sie so dicht vor ihm stand, erschien sie ihm noch schöner als von weitem. „Wer bist du?“, fragte er. „Zippora.“ Kohlschwarze, kluge Augen blickten ihn freimütig an. Ihre bronzefarbene Haut ließ ihre Zähne schneeweiß erscheinen. Die langen schwarzen Haare waren leicht gekräuselt, nicht so glatt wie die der Ägypterinnen, auch ihre Lippen wirkten voller. „Und die anderen?“„Das sind meine Schwestern.“ Dann wandte sie sich wieder den Mädchen zu: „Wir müssen uns beeilen. Vater wartet sicher schon.“ Mit Moses Hilfe waren sie mit ihrer Arbeit bald fertig. Er sah ihnen hinterher, bis sie mit ihren Tieren in der Dämmerung verschwunden waren.
Mose nahm sich vor, hier die Nacht zu verbringen. Dies war ein guter Platz. Es gab sauberes Wasser und Datteln, die wunderbar schmeckten. Nachdenklich setzte er sich unter eine Palme. Jetzt war er allein. Allein mit seinen Gedanken, die ihm wieder mehr und mehr zur Qual wurden. Die marternde Gewissheit, völlig versagt zu haben, gescheitert zu sein, bemächtigte sich seiner erneut. Zudem überfiel ihn das Gefühl einer bis dahin noch nie gekannten Einsamkeit. Er sehnte sich nach seinem Haus am Nil, nach der Schönheit seines Gartens. Er stand auf, ging zum Brunnen und setzte sich auf einen der Tröge, hörte auf das leiser werdende Schnarren der Zikaden und das beruhigende, leise Zirpen der Grillen. Das Erlebnis mit den sieben Nomadenmädchen beschäftigte ihn. Er dachte an Zippora. War er je einer solchen Frau begegnet? Ihre anmutige Art und ihre natürliche Schönheit hatten ihm fast den Atem geraubt. Er hatte in seinem Leben schon viele Frauen getroffen. Die meisten von ihnen waren reich, anspruchsvoll und verwöhnt. Und sie trugen mehr Schminke im Gesicht als ein Maler Farbe für ein Bild verwendete. Manche hatten ihm schöne Augen gemacht, andere ihm nervtötend nachgestellt. Er galt schließlich als einer der begehrtesten Junggesellen am Königshof. Aber keine hatte ihn jemals wirklich interessiert. Warum musste er jetzt nur immerzu an dieses dunkelhäutige Mädchen denken?
Er stand auf, um sich einen Schlafplatz für die Nacht zu suchen. Immerhin fanden sich einige dürre Palmwedel, aus denen er vielleicht eine halbwegs bequeme Unterlage herstellen konnte. Während er die Blätter aufeinanderschichtete, hörte er hinter sich plötzlich Schritte. Als er sich umdrehte, stand sie wieder vor ihm. Zippora! Sie hatte ihr einfaches Arbeitskleid gegen ein eng anliegendes, mit Ocker gefärbtes Gewand gewechselt, dessen Ränder mit bunt gestickten Nähten versehen waren. Hinter ihr standen zwei ihrer Schwestern. „Was – was wollt ihr?“ „Unser Vater lädt dich ein mit uns zu essen“, sagte Zippora mit einem schüchternen Lächeln. „Wir haben ihm erzählt, wie du uns gegen die bösen Hirten zu unserem Recht verholfen hast“, ergänzte die jüngere Schwester. „Du kannst auch bei uns übernachten, wenn du willst“, ließ sich die dritte überschwänglich vernehmen. „Wer ist denn euer Vater?“ „Unser Vater ist der Priester Jetro“, erwiderte Zippora mit Stolz in der Stimme, „er würde sich sehr freuen, wenn du unser Gast würdest.“ Mose spürte, wie der Druck langsam von ihm wich. „Ja, ich gehe gern mit euch!“, sagte er.

VI
„Wo ist nur dieses dumme Schaf?“ Mose schaute über die steinige Ebene in Richtung des Berges, der sich am Horizont erhob und dessen geheimnisvolle Erhabenheit ihn seit Langem beeindruckte. Aber er konnte das Schaf nicht erblicken. „Ich werde langsam alt“, murmelte er. War er denn so abwesend gewesen? Ihm war gar nicht aufgefallen, dass er das Schaf verloren hatte. Was war nur mit ihm los? Schon seit Jahren redete er kaum noch etwas, grübelte nur noch vor sich hin. Nicht einmal mit seiner Frau Zippora, die er liebte, sprach er noch viel. In den ersten Jahren war das anders gewesen, da hatte er ihr viel erzählt: Von seinem glänzenden Leben am Königshof, von Raschab, mit dem er Bogenschießen geübt hatte, den unzähligen Stürzen, die sie sich bei den ersten Versuchen mit einem Pferdegespann zugezogen hatten. Er hatte von seinem Freund, dem Priester Resteb, gesprochen, mit dem er stundenlang reden konnte und der sein Herz immer mehr für den Glauben an den einzigen Schöpfer-Gott entflammt hatte. Er hatte von seinem Lieblingsplatz in der königlichen Bibliothek geschwärmt, wo er sich stundenlang in die Lehrbücher der Geometrie und der Medizin vertiefen konnte. Heute noch sehnte er sich manchmal nach diesem Ort zurück. Und auch nach den anderen Orten, die seinen Hunger nach Schönheit, nach Musik und Bildern zu stillen vermochten. Wozu hatte er gelernt, wie man die Finanzen eines Gaues verwaltet oder wie man ein Heer anführt? Nichts von dem konnte er hier am Rand der Wüste gebrauchen. Er war einer dieser verstaubten Nomaden geworden, die von den Ägyptern zutiefst verachtet wurden. Er war ein achtzigjähriger Schafhirte, dessen Zunge vom Staub der Steppe am Gaumen klebte, der nicht einmal mehr viel mit seinen Schafen sprach. Womit hatte er ein solches Leben verdient? Ja, er hatte nicht das Recht gehabt, den Aufseher zu erschlagen. Das war ihm klar. Hundert Mal hatte er es bitter bereut. Aber warum strafte Gott ihn dafür ein Leben lang? Dieser Gott war ein zorniger Gott. Warum schwieg er? Gab es ihn überhaupt?
Er begann ein Gebet zu murmeln, das ihm eines Tages in dieser steinigen Einöde in den Sinn gekommen war: „Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder. Denn tausend Jahre sind vor dir wie ein Tag und wie eine Nachtwache. Du lässest sie dahinfahren wie ein Strom, sie sind wie ein Schlaf, wie ein Gras, das am Morgen blüht und sprosst und des Abends welkt und verdorrt. Das macht dein Zorn, dass wir so vergehen, und dein Grimm, dass wir so plötzlich dahin müssen. Denn unsere Missetat stellst du vor dich. Darum fahren alle unsere Tage dahin durch deinen Zorn, wir verbringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz. Und was davon köstlich scheint, doch nur vergebliche Mühe, denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.“
Wie lange hatte er nun wieder gegrübelt? Er wollte doch das Schaf suchen. Seine Hand umschloss den Stab fester. Dann trieb er die Herde über die braune, steinige Ebene in Richtung des Berges. Vielleicht hatte sich das Tier in den zerklüfteten Ausläufern des Gebirges verirrt? Der Wind frischte auf, bauschte Moses groben Wollumhang auf, wehte ihm den scharfen Staub in die Augen, so dass er für einen Moment nichts sah. Auf einer kleinen Anhöhe blieb er stehen. Er ließ seinen Blick über das hitzeflimmernde, staubige Land gleiten. Der große, heilige Berg war jetzt ganz nah. Majestätisch ragten seine steilen Felswände auf, dazwischen erhoben sich Geröllfelder, auf denen kleine Gehölze vegetierten. Vertrocknete Dornenbüsche, an denen man das Grün vergeblich suchte. Wie leicht konnte sich ein kleines, unbeholfenes Schaf  darin verfangen?
Mose sah, dass ein Dornengehölz brannte. Nichts Ungewöhnliches zu dieser trockenen Jahreszeit. Auch Mose dachte, die glühende Sonne habe mal wieder eines der kleinen Buschfeuer entfacht. Die brennen gewöhnlich schnell herunter. Da keine anderen Sträucher in der Nähe standen, auf die das Feuer hätte übergreifen können, würde wohl kein größerer Brand entstehen. In kurzer Zeit würde aus der Ascheglut auf dem schwarz gefärbten Boden nur noch eine dünne Rauchwolke  aufsteigen. Aber er wollte sicher sein. Deshalb wartete er noch.
Brannte dieses Feuer nicht länger als gewöhnlich? Er schaute angestrengt hin, legte die Hand an die Stirn, um die Augen abzuschatten. Der Busch brannte doch heller, weißer als normalerweise. Das erstaunte ihn. Er konnte seinen Blick nicht von diesem Feuer abwenden, und stellte nach einiger Zeit ungläubig fest, dass der Busch gar nicht verbrannte. Längst hätten seine dürren Äste von den Flammen verzehrt sein müssen. Mose wartete noch einen Moment. „Das ... das ist nicht möglich ...“. Er griff seinen Stab und trieb seine Tiere schneller als gewöhnlich die Anhöhe hinunter. Am Fuß des Berges rannte er los, die Herde hinter sich lassend, und stieg dann über Geröll und Steine hinweg den Berg hinauf, seine Augen gebannt auf das Feuer gerichtet. Es war, als zöge ihn eine unsichtbare Hand in Richtung der Flammen. Schauer liefen über seinen Rücken. Das Feuer strahlte weiß, viel weißer als der Schnee, der manchmal auf dem Gipfel des Berges lag. Als Mose näher kam, sah er, dass es gar keine Flammen waren, die den Strauch umgaben. Es war ein Licht, heller als die Sonne. Der Schauer erfasste jetzt seinen ganzen Körper, ließ ihn in der Tiefe seiner Seele erschrecken. Er tat noch einen Schritt auf den Dornbusch zu, mit Macht hingezogen zu diesem gefährlichen, glänzenden Licht, das so voller Reinheit und Schönheit war. „Mose! Mose!“, flüsterte der Dornbusch. Näher! Er musste noch näher heran, wollte dieses Licht berühren, ihm ganz nahe sein. „Ja, ich bin Mose“, flüsterte er.
„Mose!!!“ Die Stimme erschütterte ihn nun wie ein gewaltiger Donnerschlag:„Komm nicht näher und zieh deine Schuhe aus, denn du stehst auf heiligem Boden!“ Die Wucht der Worte warf ihn zu Boden. Blitzschnell warf er die Sandalen von sich. „Ich bin der Gott deiner Vorfahren – der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs“, fuhr die gewaltige Stimme fort. Mose kauerte auf dem Boden, geblendet vom gleißenden Licht. Er zog sich den Zipfel seines Umhangs vor die Augen. „Die Kinder Israels leiden. Sie werden in Ägypten unterdrückt. Ich will sie aus der Gewalt der Ägypter befreien und sie in ein weites, schönes Land führen, das von Milch und Honig überfließt. Und du wirst zum Pharao gehen und mein Volk aus Ägypten führen!“ Wie das Echo des Berges hallten die Worte in ihm nach: „Du wirst zum Pharao gehen und mein Volk aus Ägypten führen!“
Dann geschah noch etwas Seltsames. Es dauerte nur einen Augenblick, nicht einmal so lange, wie eine Sternschnuppe am Himmel zu sehen ist, und doch erschien es ihm wie eine Ewigkeit. Sei Leben flog an ihm vorbei, so als würde er es noch einmal zubringen. Längst Vergessenes aus seiner Kindheit tauchte vor ihm auf. Sein Leben am Königshof, die luxuriösen Jahre als Beamter, der Mord an dem Aufseher, die Flucht nach Midian, sein Leben mit Zippora, die Geburt seines Sohnes Gerschon, sein langes, einsames Dasein in der Wüste. Jeder einzelne Tag seines Lebens. Aber er stellte erstaunt fest, dass von den achtzig Jahren, die er gelebt hatte, kein Tag umsonst gewesen war. Nichts von dem, was er gelernt und getan hatte, war vergeblich gewesen. Alles hatte seinen Sinn. Alles zielte auf diesen einen Tag hin, an dem er dem Gott seiner Väter hier begegnen würde.
Er spürte, wie ihn das vom Dornbusch ausgehende Licht erwärmte, Ein Licht voller Frieden, das über ihn kam, ihn in seinem Innersten erfüllte. Mit einem Mal hatte er keine Angst mehr. Er wusste, dass Gott ihm vergeben hatte. Immer noch hallte die Stimme in ihm nach: „Du wirst zum Pharao gehen und mein Volk aus Ägypten führen!“ Plötzlich überfielen ihn Zweifel. Würde er dieser Aufgabe überhaupt noch gewachsen sein? Früher war er der Königssohn gewesen, mit der Autorität eines hohen ägyptischen Beamten ausgestattet. Er hatte über Tausende geherrscht. Jetzt war er nur noch ein alter staubiger Viehhirte, der in vierzig Jahren Wüsteneinsamkeit zum wortkargen Eigenbrötler geworden war. Damals hätte er sich diese Aufgabe noch zugetraut. Aber heute?
„Wer bin ich denn, Gott, dass ich diese gewaltige Aufgabe ausführen könnte? Ich kann mich doch nicht mit einem mächtigen Weltreich anlegen. Und warum sollten die Israeliten auf mich hören? Was soll ich ihnen denn sagen, wer mich geschickt hat?“ „Ich bin, der ich immer bin“, sagte die gewaltige Stimme. „Sage ihnen: ‚Ich bin‘ hat mich zu euch gesandt. Denn ich bin Jahwe, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Sage ihnen, dass es mir nicht verborgen geblieben ist, wie sehr sie unterdrückt werden und welches Elend sie erdulden müssen. Damit will ich jetzt ein Ende machen!“ „Aber der Pharao ist so mächtig. Er wird sie doch nicht so einfach gehen lassen.“ „Was hast du da in deiner Hand?“, fragte Gott nun. Mose bemerkte, dass er den Hirtenstab immer noch fest umklammert hielt. Die ganze Zeit über hatte er ihn nicht losgelassen, so verbunden war er mit seinem Handwerkszeug. „Meinen Stab“, entgegnete er also verblüfft. „Wirf ihn auf die Erde!“ Ohne diesen Stab fühlte er sich schutzlos. Warum sollte er ihn wegwerfen? Dennoch ließ er den Stab fallen. Als der den Boden berührte, bewegte er sich plötzlich. Er ringelte sich wie eine schuppige Schlange. Sie kroch auf Mose zu. Zischend richtete sie sich auf und züngelte mit ihrer gespaltenen Zunge. Mose sprang zur Seite. Aber die Schlange folgte ihm. „Heb sie auf!“, befahl die Stimme. „Nimm sie am Schwanz!“ „Das kann ich nicht!“, rief er voller Furcht. „Hab keine Angst, nimm sie!“ Da griff Mose nach ihr. Sofort verwandelte sie sich wieder in seinen Hirtenstab. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Was passierte hier? „Ich will dir zeigen, wie stark ich bin!“ Die Stimme klang markerschütternd. „Stecke deine Hand in deinen Umhang!“ Als Mose der Aufforderung nachkam, spürte er ein Kribbeln in den Fingern. Doch nachdem er die Hand wieder herausgezogen hatte, war sie schneeweiß und kalt, abgestorben, wie tot. Mose erschauderte. Er konnte nicht fassen, was hier vor sich ging. „Herr, was soll das?“, rief er voller Entsetzen. Er steckte die tote Hand wieder in seinen Umhang, wo sie sich wieder mit Leben füllte. „Vertrau auf meine Macht!“, sagte Gott. Ich will meine Wunder durch dich in Ägypten tun. Du wirst sogar das Wasser des Nil in Blut verwandeln können. Du musst mir nur vertrauen!“ Moses Gedanken überschlugen sich. Was er hier erlebte, war zu viel für einen achtzigjährigen Schafhirten. „Herr, ich habe in dieser Einsamkeit meine Sprache verloren. Ich ringe jedes Mal nach Worten, wenn ich etwas erklären soll. So weit ist es mit mir gekommen. Wie soll ich denn da dem Pharao gegenübertreten?“ Mit einem Mal schoss das Feuer im Dornbusch wie ein mächtiger Blitz zum Himmel empor. Wie ein gewaltiges, tosendes  Brausen erklang jetzt die Stimme. „Es ist jetzt genug, Mose. Weißt du nicht, dass ich der Schöpfer des Himmels und der Erde bin? Habe ich nicht den Mund des Menschen gemacht und seine Zunge erschaffen?“ „Ja, Herr, das hast du getan!“ Mose verneigte sich tief vor dem Dornbusch, der jetzt wieder Wärme und Zuversicht ausstrahlte. Und als Gott weiter zu ihm sprach, hörte er sogar ein Lächeln darin: „Ich will dir deinen Bruder Aron zur Seite stellen. Er kann besser reden als du und befindet sich schon auf dem Weg zu dir. Er wird sich sehr freuen, dich zu sehen.“ Mose traten die Tränen in die Augen. Jetzt würde alles gut werden. Durch den Tränenschleier sah er, wie das Licht aus dem Dornbusch verschwand, und sein wieder klarer Blick zeigte ihm schließlich, dass der Busch noch vollständig erhalten war. Keiner der dürren Äste zeigte auch nur die Spur eines Brandes. Es war das Feuer Gottes, das diesen Busch erfüllt hatte. Mose nahm seinen Stab und stieg das Geröllfeld hinunter. Dieser Gott würde nun in seinem Herzen brennen. Deshalb würde er stark sein.
Mose hörte die Schafe blöken. Einige dünne Lämmer liefen ihm entgegen. „Kommt!“, rief er mit leuchtenden Augen. „Wir müssen zurück zu den Zelten. Vor mir liegt ein weiter Weg.“

Werner Hoffmann © 2010 Felsenfest Musikverlag, Wesel

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