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Das mutige Saxophon
Eine fantastische Musikgeschichte
von Werner Hoffmann

Die Geschichte, die ich euch heute erzählen möchte, könnte fast überall spielen. Überall dort zumindest, wo es Kirchen gibt und Gemeindehäuser, und die sind selbst da zu finden, wo der letzte Tante-Emma-Laden längst dichtgemacht hat. Doch wo es Kirchen gibt, da gibt es auch Menschen, die Gottesdienste besuchen, und solche, die sich in den verschiedensten Gruppen und Kreisen betätigen.
Das war in der evangelischen Gemeinde in Großenheindorf, einer Kleinstadt, wie man sie tausendfach findet, auch nicht anders. Hier gab es Menschen, die im Kirchenvorstand mitwirkten, sich um die Jungschar und den Kindergottesdienst kümmerten, Jugendliche und Teens betreuten, die Seniorengruppe und die Hauskreise managten, im Posaunenchor mitspielten und das Lobpreisteam leiteten, im Gästegottesdienst-Vorbereitungskreis aktiv und für die Gemeindefreizeit verantwortlich waren. Nicht zu vergessen jene, die den Chor und das kleine Streichorchester mit Leben füllten, den Krabbelkreis betreuten, den Seniorensingkreis bedienten und den Gebetskreis am Laufen hielten. Wobei Letzterer ein kaum noch beachtetes Randdasein fristete.
Und dann erst die Arbeitskreise ... Auch in Großenheindorf hielt sich eine Anzahl davon hartnäckig. Nicht zu vergessen auch die Ausschüsse ... Eine Gemeinde ohne Ausschüsse wäre wie eine Kaffeetasse ohne Untertasse, wovon es in der Gemeinde ebenfalls eine beträchtliche Anzahl gab.
Und dann war da noch Sebastian Obermeier, der junge Pastor, den manche mit Bruder Obermeier anredeten, was aber durch die Anrede „Sie“ gleich wieder relativiert wurde. Sebastian Obermeier war nicht zu beneiden. Er amtierte nicht nur als Herr der Kreise, Ausschüsse und Gremien. Er war auch Seelsorgeprofi und Kanzelredner, Theologie- und Bibelexperte, und er betätigte sich außerdem als Ermutiger und Visionär. Daneben fungierte er als Seniorenversteher, Kaffeekränzchenunterhalter sowie als Ehe- und Familienberater. Zudem wirkte er – was ihm besonders am Herzen lag – als „Nichts-am-Hut-mit-der-Kirche-Menschen-Gewinner“. Dass er nebenbei auch noch als Couch für die Jugendmitarbeiter jobbte, sich als Mentor für einen jungen Praktikanten versuchte und gar als Motivationstrainer für die gesamte Mitarbeiterschaft verdingte, verstand sich von selbst. Von den Taufen, Einsegnungen, Trauungen und Beerdigungen wollen wir hier erst gar nicht erst reden ...
Vieles davon tat er gerne, manches weniger, anderes, weil es einfach getan werden musste. Zu Letzterem gehörte auch seine Betätigung als Konfliktbewältiger. Doch bald schon sollte sich zeigen, dass gerade diese gewiss nicht zu seinen Kernkompetenzen gehörende Gabe zu einer der größten Herausforderungen seines Dienstes werden sollte.
Er hätte es früher nie für möglich gehalten, dass er manchmal sogar regelrecht unter seiner Gemeinde leiden könnte, unter all diesen „Warum-wurde-ich-nicht-gefragt-Empfindlichkeiten“ und den „Schaut-doch-her-was-ich-tue-Wichtigkeiten“. Äußerst beliebt waren auch die „Hast-du-schon-gehört-Neuigkeiten“, die unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit kolportiert wurden – und deshalb umso schneller die Runde machten, ja, manchmal sogar als getarnte, im Vertrauen mitgeteilte „Gebetsanliegen“ von Mund zu Mund gingen, wodurch sie sich natürlich sensationell schnell verbreiteten. Sebastian Obermeier beschlich manchmal das Gefühl, dass noch vieles andere unausgesprochen vor sich hin gärte, etwas, das nur mit Mühe unterm Deckel gehalten wurde, sich aber jederzeit entladen konnte.
Dazu sollte es freilich bald kommen. In einer Sitzung der Leiter und Mitarbeiter aller zur Gemeinde gehörenden Kreise machte Sebastian Obermeier seiner Enttäuschung einmal Luft. Er könne eines nicht verstehen, führte er mit großem Ernst aus: In den zahlreichen Gruppen, Teams und Musikensembles tummelten sich ein Vielzahl von Leuten. Und dennoch erfreue sich der Gottesdienst am Sonntag keines sehr regen Zuspruchs. Er könne sich des Eindrucks nicht erwehren, dass einige da ihr eigenes Süppchen kochten und dabei vielleicht den Blick für das Ganze verloren hätten. Mit viel Herz appellierte er an seine Mitarbeiter, ihre Schäfchen doch mehr für den Besuch des Gottesdienstes zu erwärmen. Denn das sei doch der zentrale Ort, die eigentliche Mitte, das Zentrum, in der sie sich alle versammeln sollten, die Stätte, wo Jung und Alt in froher Gemeinschaft miteinander feiern, singen, beten und von Gottes Wort ermutigt und gestärkt würden.
Dem stimmten die meisten im Prinzip auch zu. Dann aber brachte Frau Stubenreuter, die Leiterin der Seniorengruppe, den Stein ins Rollen. Besorgt berichtete sie, dass einige aus ihrem Kreis nur mit großer Überwindung – und sie sage das ganz offen –, andere gar nicht mehr zum Gottesdienst gingen, weil sie mit den dort neuerdings gesungenen modernen Liedern nichts anfangen könnten. Andreas, der Leiter der Jungschar, erwiderte darauf, dass es doch großartig sei, wie viele Jüngere jetzt wieder zum Gottesdienst kämen. Außerdem stammten diese „neuen Lieder“, um die es hier gehe, zum Teil schon aus einer Zeit, als er noch ein Kleinkind gewesen sei. Er wünsche sich auch mal Songs, die so richtig abgingen, ein Ansinnen, das von den jungen Leuten mit reichlich Applaus bedacht wurde.
Daraufhin meldete sich Herr Kühlschmidt, der langjährige Leiter eines Hauskreises, zu Wort. Mit ernster Miene beklagte er sich darüber – und er sage dies mit Nachdruck –, dass den Älteren diese Musik vielfach zu laut sei. Für diese extremen Lautstärken, so führte er besorgt aus, seien die Hörgeräte – mit denen einige Gemeindemitglieder bekanntlich ausgerüstet seien – einfach ungeeignet. Eine Feststellung, die bei einigen der jungen Leute mehr als nur ein Schmunzeln hervorrief. Schließlich ließ sich Janine, die Leiterin des Teenkreises, zu der Aussage hinreißen, dass der Posaunenchor ja auch nicht gerade leise spiele, was im Übrigen auch für die Orgel gelte. Damit lieferte sie dem Posaunenchorleiter Herrn Krantelhuber die Vorlage dafür, ein leidenschaftliches Plädoyer für das Singen alter Choräle abzugeben ...
Spätestens an dieser Stelle begann Sebastian Obermeier die Leitung der Sitzung aus dem Ruder zu laufen. Immer wieder versuchte er zu vermitteln, was ihm aber an diesem Abend einfach nicht richtig gelingen wollte. Herr Krantelhuber – so richtig in Fahrt gekommen – beklagte sich nun, dass der Posaunenchor in der letzten Zeit kaum noch zum Einsatz komme. Einige seiner Bläser kämen schließlich nur dann zum Gottesdienst, wenn sie dort auch spielten, was die Chorleiterin Frau Sauerbier – sie sage dies mit großem Bedauern – für das von ihr geleitete Ensemble ebenfalls einräumte. Außerdem befürchte sie, dass der Chor bald wohl wegen fehlenden Nachwuchses seine Tätigkeit einstellen müsse, weil die Leute heute ja nur noch Gospels singen wollten. Sie sagte das mit Blick auf den kürzlich in der Gemeinde durchgeführten Gospelworkshop, der eine außerordentlich hohe Teilnehmerzahl verbucht und bei dem Sebastian Obermeier sogar mit seinem Saxophon mitgewirkt hatte. Beim Abschlusskonzert des Workshops hatten die Plätze im Gemeindehaus nicht ausgereicht ...
Nachdenklich und ziemlich niedergeschlagen ging Sebastian Obermeier nach dem Mitarbeitertreffen nach Hause. Er saß noch eine Weile in Gedanken versunken am Küchentisch und trank eine Tasse Melissentee. Jetzt musste er sich erst mal beruhigen.
Was lief nur in seiner Gemeinde falsch? Offensichtlich besuchten einige den Gottesdienst nur noch dann, wenn sie dort eine Aufgabe übernommen hatten oder sich produzieren konnten. Andere blieben fern, weil sie sich an irgendetwas störten oder weil man sie nicht genug beachtete. Hatte man in seiner Gemeinde vielleicht den Blick für das Wesentliche verloren? Und worin bestand eigentlich das Wesentliche? Ziemlich bedrückt ging Sebastian Obermeier am späten Abend zu Bett, und es dauerte ziemlich lange, bis er endlich einschlafen konnte.

Langsam wurde das Saxophon wach. Es gähnte und wollte sich in seinem Instrumentenkoffer ein wenig strecken, was ihm aber wegen der darin herrschenden Enge nicht wirklich gelang. Es holte tief Luft und richtete sich langsam auf, gähnte wieder und versuchte, die Klappen zu bewegen. Unglaublich! Das funktionierte ja. „Vielleicht kann ich sogar aus eigenem Antrieb heraus spielen?“, dachte es. Es atmete tief ein, um einen Ton zu erzeugen. „Pssst“, pustete es plötzlich von der Seite, „jetzt mach nur keinen Lärm, siehst du denn nicht, dass wir fast alle noch schlafen?“ „Nanu? Wer besitzt denn hier die Frechheit, Saxophonmusik als Lärm zu bezeichnen?“, dachte es empört und schaute sich um. Die Stimme kam von einem Flügelhorn, das rund und glänzend neben ihm auf einem Stuhl lag. „Oh, Entschuldigung“, hauchte das Saxophon, „alle schlafen noch? Wo bin ich? Was geht hier eigentlich ab?“ „Du bist neu, was?“, flüsterte das Flügelhorn, „seit wann bist du hier?“ „Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass Sebastian gestern noch auf mir geübt hat.“ „Wer ist Sebastian?“, wollte das Flügelhorn wissen. „Er ist Pastor“, erwiderte das Saxophon, „eigentlich wollte er Musiker werden, aber das hat man ihm ausgeredet: brotlose Kunst.“ „Schade“, sagte das Flügelhorn. „das sagen sie immer. Aber Musik wollen sie alle hören und die gibt’s nun einmal nicht ohne gute Musiker.“
„Ach ja“, das Flügelhorn seufzte. Es schien ziemlich niedergeschlagen zu sein. „Ich bezweifle, dass wir es noch hinkriegen, den König angemessen zu empfangen“, fuhr es schließlich fort. „Welchen König?“ „Na, die sieben Posaunen.“ Das Flügelhorn war auf einmal ganz aufregt. „Hast du etwa noch nichts von den sieben Posaunen gehört?“ „Sieben Posaunen?“, fragte das Saxophon, „ich kenne nur die zwölf Cellisten oder die vier Tenöre. Aber erzähl mir davon!“ Das Saxophon war jetzt hellwach. „Ach, später vielleicht“, winkte das Flügelhorn ab und gähnte ausgiebig dabei, „lass mich erst mal zu mir kommen.“ Dann richtete es sich ächzend auf. „Weißt du, ich bin nämlich auch nicht mehr das Jüngste. Und diese ewigen Streitereien machen einen auch ganz schön müde. Aber schau, nun werden die anderen auch langsam munter.“ Jetzt bemerkte das Saxophon, dass der Raum, in dem es sich befand und der zweifellos eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Kirchensaal von Großenheindorf aufwies, voller Musikinstrumente war.
Neben dem Flügelhorn entdeckte es noch andere Blechblasinstrumente. Da gab es schlanke, mit silbrigen Ventilen versehene Trompeten, langgezogene Posaunen, messingglänzende Waldhörner mit großen, kreisrunden Trichtern und eine rundliche, gemütlich wirkende Tuba, die auf ihrem mächtigen Schalltrichter stehend mit einem tiefen „Ups“ leise vor sich hin schnarchte. Dahinter hatten sich die Streicher gruppiert: zartgliedrige Geigen, deren edles Holz mattbraun glänzte, etwas größere Bratschen und dickbäuchige Gamben, ein elegantes, schlankes Cello und ein etwas unförmig wirkender Kontrabass. Mit deutlich vernehmbarem Säuseln und Gähnen erhob sich eins nach dem anderen. Dann begannen sie sogleich damit, sich mit Quintenintervallen auf den Tag einzustimmen, wobei der Kontrabass wie immer Quarten bevorzugte. Ihre Stimmwirbel drehten sich dabei wie von Geisterhand. Zarte Geigenbögen aus Brasilholz, die eben noch erschlafft dagelegen hatten, brachten sich in Spannung und schwebten auf einmal selbstständig durch die Luft. Plötzlich war der Raum von einem Klangteppich erfüllt, wie man ihn von Konzerten kennt, bevor der Dirigent das Pult betritt.
Das Saxophon konnte kaum fassen, was es hier erlebte. Es war tatsächlich in einer Welt voller lebender Instrumente gelandet, die selbstständig spielen und sogar sprechen konnten. Wahnsinn! Der schwarz glänzende Flügel, der von den Streichern nun auch geweckt worden war, öffnete mit einem hörbaren „Klack“ den Vorderdeckel und ließ seine makellos weißen und schwarzen Tasten sehen, um anschließend den großen, flügelähnlichen Hinterdeckel nach oben schweben zu lassen, was ihn noch beeindruckender erscheinen ließ. Er galt als ziemlich versnobt und selbstverliebt, obwohl er nur ein Yamaha war. Gerade hatte er allerdings davon geträumt, ein echter Steinway & Sons zu sein. Dementsprechend ärgerte er sich darüber, dass die Streicher ihn nun aus seinem wunderschönen Traum gerissen hatten. Mal ehrlich! Welcher Yamaha, Schimmel oder Blütner träumt nicht manchmal davon, ein echter Steinway zu sein, also in der allerobersten Klavierliga mitspielen zu dürfen?
Über dem Flügel erhob sich die Orgel. Mit ihren zwei Manualen, den 26 Registern und den links und rechts wie Türme aufragenden silbrig glänzenden Prospektpfeifen gehörte sie zu den eindruckvollsten Musikinstrumenten hier. Orgeln sind fantastische Klangschöpfer. Mit ihren über 2000 Metall- und Holzpfeifen trug diese Orgel mehr Instrumente in sich, als je ein Orchester haben könnte. Dabei konnte sie auch mehr als jedes andere Instrument, worauf sie natürlich ungeheuer stolz war. Vom sanften Flüstern bis zum tiefen Dröhnen, vom weichen, einschmeichelnden Flöten bis zum durchdringenden Posaunen. Ihre musikalische Ausdrucksvielfalt war fantastisch. Sie besaß die einzigartige Fähigkeit, hunderte, ja tausende von Klangfarben und Klangkombinationen zu erzeugen. Doch obwohl sie längst wach war – Orgeln schlafen in der Regel nur sehr wenig –, schwieg sie. Eine Orgel lässt sich nämlich nur dann vernehmen, wenn ihr die ungeteilte Aufmerksamkeit sicher ist, und reagiert schnell verstimmt, wenn während ihres Vortrags gesprochen oder gar laut gehustet wird. Außerdem würde sich die Königin der Instrumente – wie ihre Verehrer sie ehrfurchtsvoll nannten – nie zu irgendwelchen Belanglosigkeiten, wie „Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen“ oder „Na, wie habt ihr denn geschlafen?“, herablassen.
Neben der mächtigen Orgel nahm sich das kleine Keyboard, das sich zusammen mit dem Schlagzeug, dem E-Bass, der E-Gitarre sowie einer edlen spanischen Konzertgitarre zum Schlafen in eine Ecke verzogen hatte, ausnehmend bescheiden aus. Das Verhältnis zwischen der Orgel und dem Keyboard galt, gelinde gesagt, nicht gerade als harmonisch. Die Königin hatte neulich das Keyboard sogar als „programmierten Phrasendrescher“ und „schlecht gemachtes Plagiat“ bezeichnet. Worauf das Keyboard sie als „arrogantes Pfeifenmonster“ bezeichnet  hatte. Seitdem herrschte zwischen den beiden Tasteninstrumenten Funkstille. Kürzlich hatte das Flügelhorn noch einmal versucht, zwischen den beiden Kontrahenten zu vermitteln, leider ohne Erfolg.
Das Saxophon hatte sofort gespürt, dass hier etwas nicht stimmte. Es besaß ein feines Gefühl für Stimmungen und Atmosphäre. Während es noch darüber nachdachte, was hier eigentlich los war, erwachte auch der E-Bass: „Zu dumm, dumm, dumm“, brummelte er, „nun ist die Nacht schon wieder rum.“ Dabei zwinkerte er der kleinen Trommel, auch Snare genannt, zu. „Wahrscheinlich wird es dir heute auch wieder nicht gelingen, alle zusammenzutrommeln“, flachste er. „Is’ aber auch zu dumm, dumm, dumm.“ „Das wollen wir doch mal sehen“, antwortete die Snare mit einem Trommelwirbel, der alle vor Schreck zusammenzucken ließ. „Mach nich’ so’n Lärm, sonst zieh ich dir das Fell über die Ohr’n“, meldete sich die Konzertgitarre, die gerne noch etwas geschlafen hätte. „Diese Töne passen mir aber gar nicht. Du willst wohl was auf den Resonanzboden“, alberte die Snare. „Leute, was seid ihr heute wieder taktvoll“, mischte sich da eine Trompete ein, „ihr Bandinstrumente schafft es wohl nie, den richtigen Ton zu treffen.“ „Dumm, dumm, blubber hier nicht rum“, mischte sich jetzt der Bass wieder ein, „hör auf, so früh schon rumzutröten, sonst geht dir noch der Ansatz flöten.“ Die komplette Band lachte.
Aber dann entdeckte das Keyboard das Saxophon: „Schaut, da ist ja ein neuer Kollege. Hey, du hast uns gerade noch gefehlt. Hast du nicht Lust, bei uns mitzumachen?“ „Warum nicht ...“, sagte das Saxophon zögerlich. „Ums, ums – ums, ums“, ließ sich jetzt die Basstrommel vom Schlagzeug vernehmen, „die Session mit den Bläsern kannste nämlich vergessen, die haben den Groove leider nich’ drauf. Ums, ums – ich glaub, ich geb’s auf“, zwinkerte sie dem Saxophon zu. „Könntet ihr bitte dieses primitive Gewummere sein lassen?“, säuselte nun eine Geige aus der Streichergruppe, „das schlägt mir total auf den Korpus.“ „Ach, unser zart besaitetes Violchen braucht mal wieder Streicher ... äh, Streicheleinheiten“, höhnte die Snare, „glaub ja nicht, dass du mit deiner Sensibelnummer immer durchkommst!“ „Sie muss halt immer die erste Geige spielen“, säuselte sich die E-Gitarre zu. „Ich glaub, ich werde hier jetzt mal andere Saiten aufziehen!“ Verzerrt und mit viel Echoeffekt fuhr sie fort: „Yeah, Baby, ich kann dich locker übertönen ... übertönen ... übertönen.“ Dabei spielte sie ein paar Läufe, die Carlos Santana alle Ehre gemacht hätten.
„Geht das schon länger so?“, raunte das Saxophon dem mittlerweile ziemlich genervten Flügelhorn zu. „Oh ja“, stöhnte dieses, „es ist manchmal nicht zum Aushalten. Aber du musst wissen, das war nicht immer so. Am Anfang hatten wir die Idee, etwas Wunderbares zu schaffen. Wir wollten gemeinsam ein einmaliges Klangkunstwerk kreieren und es in einer Weise erklingen lassen, wie man es bisher noch nie gehört hat. Ein Werk, das würdig ist, den König zu empfangen.“ „Du lieber Herr Gesangsverein! Damit scheint ihr ja wohl kläglich gescheitert zu sein“, stellte das Saxophon mit Blick auf die reimenden Kollegen aus der Band fest. „Mehr noch“, erwiderte das Flügelhorn, „wir sind damit mit Pauken und Trompeten untergegangen.“ „Mit Rabauken und Raketen, her mit den Moneten“, alberte das Keyboard, jetzt die Blechbläser imitierend, denn es konnte mit seiner Mega-Voice-Technologie insgesamt über 800 Klangfarben erzeugen. „Quatsch keine Oper und red kein Blech!“ Das Flügelhorn war jetzt wirklich verärgert. Obwohl es, weil es früher einmal in einer Bigband gespielt hatte, eine große Sympathie für die Bandabteilung hegte, gingen ihm die Albernheiten dieser Instrumentengruppe doch manchmal ziemlich auf die Nerven.
Auch das Saxophon fühlte sich naturgemäß eher zu der manchmal abfällig als „U-Musik“ bezeichneten Abteilung hingezogen. „Als ob ein klassisches Konzert keine Unterhaltung darstellen würde ...“ Trotzdem hegte es – und das war das Ungewöhnliche an diesem Saxophon – eine große Zuneigung zu allen Musikinstrumenten, so unterschiedlich sie auch sein mochten. Von der winzigsten Piccoloflöte bis zur mächtigsten Orgel liebte es alle. Denn sie alle hatten diese wunderbare Gabe: Musik zu machen. Sie alle hatten die Fähigkeit, sich einer Sprache bedienen zu können, die in der ganzen Welt verstanden wird, die berührt und tröstet, die fröhlich und traurig machen kann, die beflügelt und beschwingt und die die Zuhörer manchmal in andere Welten versetzt. Denn nur Musikinstrumente verstehen sich in der Sprache des Herzens und der Seele, können das ausdrücken, was man mit Worten niemals sagen kann. Aber das funktioniert natürlich nur, wenn alle ihr Bestes geben, sich an ihren Part halten und wirklich gewillt sind, harmonisch zusammenzuspielen. Diese Voraussetzungen waren hier aber offensichtlich nicht gegeben. Hatten denn die Instrumente vergessen, zu was sie geschaffen waren, welche großartige Begabungen, ja einzigartige Fähigkeiten sie besaßen?
Nach und nach verließen nun die Instrumente den Raum. Das Saxophon und das Flügelhorn, die sich schon ein wenig angefreundet hatten, begaben sich nach draußen, um die warme Morgensonne zu genießen. Außerdem brannte das Saxophon darauf, mehr über die sieben Posaunen zu erfahren. Die Streicher schwebten in den Gartensaal, um dort ein Stück von Vivaldi zu üben; die Bandinstrumente zogen sich in den Jugendraum zurück, um sich dort an einem Hillsong zu versuchen; der Flügel fuhr auf seinen Rollen ins Foyer, um dort zu improvisieren; und die Bläser schwebten in den Proberaum, um dort einen Choral von Paul Gerhardt nach einem Satz von Johann Sebastian Bach zu üben.
Nur die Orgel blieb ihrem Standort treu und nahm sich vor, weiterhin ihrer Lieblingsbeschäftigung nachzugehen, nämlich ausgiebig gravitätisch zu schweigen. Zudem besaß sie ja leider nicht die Fähigkeit, sich von der Stelle bewegen zu können, was sie allerdings auch im Hinblick auf ihre sonstigen Standpunkte auszeichnete. Am Anfang hatte sie noch – im Bewusstsein ihrer geistigen und geistlichen Überlegenheit – versucht, alle unter einen Hut zu bekommen. Wenn sie dabei nur nicht so pädagogisch ungeschickt und mit diesem Anflug von Überheblichkeit vorgegangen wäre, dann hätte es vielleicht gelingen können. Am Ende hatte jedoch nur noch der Posaunenchor, und auch der nur halbherzig, zu ihr gehalten. Dazu kam, dass sie sich mit ihrer verschnörkelten, sakralen Ausdrucksweise, die vor allem der E-Gitarre und dem Schlagzeug extrem unverständlich war, keine Freunde hatte machen können. Als sie schließlich erkannt hatte, dass sie ihre Vorstellungen nicht würde durchsetzen können, hatte sie sich beleidigt zurückgezogen und beschlossen zu schweigen. Nur am Sonntagmorgen um Punkt zehn machte sie eine Ausnahme. Dann spielte sie, oft ihre Lieblingskomposition: Toccata und Fuge in d-Moll, Bach-Werke-Verzeichnis 565, ob es jemand hören wollte oder nicht. Eine Tradition, die seit vielen Jahrzehnten so üblich war und an der sie eisern festhielt.
Trotzdem gab es Teile in ihrer großen Seele, vor allem im Bereich der weichen, klingenden Holzregister, Gedeckt 8′ (Fuß), und der Rohrflöte, 4′ (Fuß), die etwas Fürsorgliches, ja Liebenswertes in sich trugen. Eigenschaften, die aber durch Metallzungenregister wie die Posaune, 16′ (Fuß), und verschieden scharf klingende Mixturen leider allzu oft in den Hintergrund traten. Hätte sie mit ihrem enormen Schatz an Wissen, das sie über die Jahrhunderte erworben hatte, etwas weiser fungiert und mehr ihre emphatischen Seiten hervorklingen lassen, die ja bei einem so wertvollen, vielschichtigen Instrument wie einer Kirchenorgel vorhanden sind, hätte sie gewiss mehr ausrichten können.
Inzwischen hatte sich das Flügelhorn mit seinem neuen Freund auf einer Bank im Schatten einiger mächtiger, jetzt im Frühsommer wunderbar duftender Linden eingefunden. „Ach“, seufzte das Flügelhorn, „das tut gut.“ Auch das Saxophon genoss die friedliche Stimmung auf dem Kirchplatz. „Du musst mir jetzt unbedingt mehr von den sieben Posaunen erzählen“, bat es nach einer Weile. „Wahrscheinlich wirst du mir die Geschichte kaum glauben.“ „Warum sollte ich dir nicht glauben?“ „Ach, ich weiß manchmal schon selber gar nicht mehr, was ich noch glauben soll.“ „Das kenn ich“, sagte das Saxophon mitfühlend. „Manchmal zweifelt man einfach.“ „Schlimmer ist es, wenn die anderen zweifeln ...“ „Zweifeln sie denn an deinem Erlebnis, die anderen Instrumente?“ „Ich glaub inzwischen: manchmal schon“, antwortete das Saxophon deprimiert. „Schau doch, wie unmotiviert wir alle sind. Wir haben einfach das große Ziel, das uns am Anfang noch geeint hat, aus den Augen verloren.“ „Ja, so ist das, wenn man nicht mehr weiß, für wen und für was man eigentlich spielen soll, dann macht alles keinen Spaß mehr.“
„Zum Glück hab ich ja noch die Tuba“. „Die Tuba?“ „Ja, sie war damals auch dabei, als wir das Erlebnis mit den Posaunen hatten. Manchmal, wenn es ganz schlecht läuft, bauen wir uns gegenseitig auf.“ „Du verstehst dich also gut mit ihr?“ „Sie ist meine beste Freundin und hat sich damals rührend um mich gekümmert, als ich frisch aus der Bigband im Posaunenchor angefangen hatte. Immer wieder hat sie mir Mut gemacht, mich auf diesen neuen ‚Sound‘ einzulassen, den ich am Anfang recht langweilig fand. Heute kann ich den alten Chorälen und Liedern wirklich etwas abgewinnen. Schau dir nur mal einen Choral von Paul Gerhardt an, und du weißt, was ich meine.“ „Oh ja“, stimmte das Saxophon zu, „ich kenn viele Lieder von ihm. Da staunst du, was? Auch wenn ich ein Saxophon bin.“ „Ach ja, meine gute Tuba“, seufzte das Flügelhorn, „wenn ich die nicht hätte, ich glaube, ich wäre hier längst nicht mehr dabei.“ „Verstehe“, nickte das Saxophon, „aber jetzt erzähl mir endlich diese Story!“

Und das Flügelhorn erzählte: „Es war an einem Sonntagabend. Nach einer Probe – die anderen waren schon gegangen – hatten die Tuba und ich noch etwas zusammengesessen und uns unterhalten. Es dämmerte bereits, als wir plötzlich eine sehr merkwürdige Musik hörten. Es klang, als würden Herolde irgendein Ereignis oder einen König ankündigen. Dann sahen wir sie: Es waren die sieben Posaunen. Plötzlich schwebten sie über uns, von einem bläulich weißen Licht umgeben. Wir erschraken fast zu Tode, als wir sie erblickten. Aus ihren glänzenden Schalltrichtern schossen Flammen. ‚Folgt uns!‘, wisperten sie. Dann öffnete sich die Tür und sie schwebten nach draußen, und wir hinter ihnen her. ‚Lass uns umkehren‘, sagte die Tuba, ‚mir ist das unheimlich.‘ Und auch ich hätte am liebsten umgedreht, aber wie von einem magischen Sog gezogen mussten wir diesen merkwürdigen Posaunen einfach folgen. Inzwischen war es dunkel geworden. Aber diese Nacht war keine normale Nacht: Seltsam blass standen die Sterne am Himmel, und der Mond verbreitete so ein trübes, merkwürdig rötliches Licht. Wie ihm Traum flogen wir dahin.
Bald ging am Horizont kalt die Sonne auf. Aber auch sie verströmte nur wenig Licht. Schließlich schwebten wir über einer weiten, wüstenähnlichen Ebene. Dürre, stachelige Sträucher warfen lange, dunkle Schatten auf den ausgedorrten Boden. Wir zogen an schwarz verkohlten Bäumen vorbei, von denen lange, dürre Äste gespenstisch in den Himmel ragten. Hässliche Geier flogen schreiend von ihnen auf. Am Horizont erblickten wir bizarre Trümmerlandschaften, von denen stinkender Qualm aufstieg. Hin und wieder sahen wir ein verlassenes, dem Verfall preisgegebenes Dorf. Obwohl die Landschaft einer ausgebrannten Wüste glich, umfing uns ein eiskalter Wind, der wie der Hauch des Todes und des Verfalls über allem zu liegen schien.
Aber dann änderte sich das Bild schlagartig. Wie aus dem Nichts tauchte mit einem Mal eine prächtige Stadt vor uns auf. Es war, als seien wir in einer völlig anderen Welt gelandet. Wo eben noch Verfall und Dürre geherrscht hatten, grünte und blühte jetzt alles. Von oben betrachtet, hatte diese faszinierende Stadt die Form eines Frauenkörpers, der wie bei einem dreidimensionalen Bild durch verschieden hohe Gebäude nachgebildet war. Viele dieser Häuser besaßen goldene und silberne Dächer. An den rötlich glänzenden Marmorfassaden leuchteten bunte Edelsteine. Die Stadt schien als ein einziges, gewaltiges Kunstwerk geplant und geschaffen worden zu sein, wobei jedes Gebäude wiederum ein eigenes, individuell gestaltetes Werk darstellte und sich dennoch perfekt dem Ganzen anpasste. Von der einzigartigen Schönheit dieser unermesslich reichen Stadt wie berauscht, taumelten Musikinstrumente durch die mit bunten Steinen gepflasterten Straßen. Auf mit leuchtend rotem Marmor ausgeschlagenen Plätzen, die mit reichhaltig verzierten Brunnen versehen waren, aus denen klar das Wasser plätscherte, wurde von großen Orchestern musiziert. In angemessener Entfernung dazu wurde auf Palazzi bei lauter, hämmernder Musik ausschweifend getanzt. Die ganze Stadt schien sich in einem einzigen, rauschhaften Taumel zu befinden, glich einer überbordenden, ausgelassenen Party. Und obwohl wir den Anblick der ekstatisch tanzenden Instrumente eher als befremdlich und abstoßend empfanden, fühlten wir uns zugleich von einem eigenartigen Zauber magisch angezogen. Ich glaube fast, wir wären der unwiderstehlichen Faszination dieser Stadt erlegen, wenn sich nicht die Posaunen wieder gemeldet hätten. ‚Der König kommt! Seid bereit, ihm zu begegnen!‘, schmetterten sie mit aller Kraft. Aber niemand schien in dieser Stadt sonderlich von ihnen Notiz zu nehmen. Nur wenige Instrumente hielten inne und schienen nachdenklich zu werden. Und dann, so schnell, wie sie vor uns aufgetaucht war, lag diese faszinierende Stadt schon wieder hinter uns. Bald war ihr schillernder Frauenkörper am Horizont verschwunden.“
„Und, ging eure Reise noch weiter?“ fragte das Saxophon gespannt. „Ja, sie ging noch weiter. Irgendwann tauchte schwarz das Meer vor uns auf. Bald vernahmen wir auch das gewaltige Tosen der Brandung. Als wir endlich das Ufer des Meeres erreicht hatten, schien unsere Reise zu Ende zu sein, denn die Posaunen blieben nun am Himmel über uns stehen. Wir landeten ziemlich unsanft in einer kleinen sandigen Bucht, die über und über mit Schmutz übersät war. Bei der Landung zog sich die Tuba einige Beulen an ihrem bis dahin noch makellosen Messingbauch zu. ‚Ups, Dellen bringen Glück‘, versuchte sie zu scherzen, was aber angesichts der trostlosen Umgebung nicht recht gelingen wollte. Wir sahen, dass der Strand von einem Fluss geteilt wurde, dessen Wasser blutrot ins Meer strömte. ‚Sieht aus wie ein Strom von Blut und Tränen‘, raunte ich erschüttert der Tuba zu. ‚Ups‘, sagte sie nur, ‚kein schöner Anblick. Außerdem stinkt’s hier auch noch gewaltig.‘
Und tatsächlich. Das Meer bestand aus einer einzigen, stinkenden Brühe. ‚Was ist hier bloß passiert?‘, fragte ich entsetzt. Wir fühlten uns, als seien wir in einem dieser apokalyptischen Katastrophenfilme gelandet. Der Mond war jetzt kaum noch am Himmel auszumachen und die Sonne, von schwarzen Rauchschwaden verdunkelt, hatte ihre Kraft zu wärmen und zu leuchten längst verloren. Nur die Posaunen verbreiteten durch ihren Feuerschein etwas Licht am Himmel. ‚Ups, das ist ja alles ganz furchtbar.‘ Die Tuba trat mit ihrem großen Schalltrichter ganz nah an mich heran und ich fühlte, wie eine tröstende Geborgenheit von ihr ausging.
Plötzlich ertönten wieder die Posaunen, jetzt indes in einer Klarheit, wie wir sie vorher noch nicht gehört hatten. ‚Der König kommt. Seid bereit, ihm zu begegnen!‘ Mit einem Mal dröhnte und vibrierte die Erde hinter uns. Ich klammerte mich voller Angst an die Tuba, die jetzt am ganzen Trichter zitterte. Immer lauter war nun das Dröhnen zu vernehmen. ‚Pferde!‘, flüsterte die Tuba entsetzt, ‚das muss eine gewaltige Herde sein!‘ Zitternd drehten wir uns um. ‚Ups, das gibt’s doch  nicht!‘ Die Tuba schien vor Schreck zu erstarren, denn sie rührte sich nicht mehr von der Stelle. ‚Weg, wir müssen schnell weg!‘, presste ich hervor. Ich wollte schreien, brachte aber vor Panik keinen Laut heraus, wollte weglaufen, konnte mich vor Schreck aber nicht rühren. Ein gewaltiges Heer, es mochten tausende von Reitern sein, kam über die Ebene in einer Staubwolke auf uns zu galoppiert. Bald konnten wir ausmachen, dass es sich um ein gewaltiges Militärorchester handelte. Auf den Pferden saßen alle Arten von Musikinstrumenten, die man sich vorstellen kann. Viele von ihnen waren mit militärischen Orden und Abzeichen versehen. Wie von einer unsichtbaren Macht angetrieben, wälzte sich das seltsame Musikkorps wie ein tosender Strom vorwärts und kam uns nun immer näher. ‚Tuba!‘, schrie ich vor Angst, ‚gleich werden sie uns überrollen!‘
Aber dann passierte etwas Seltsames. Die Tuba richtete sich auf einmal auf und begann zu spielen. „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt, der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt“, intonierte sie mit aller Kraft. Und nach einer Weile stimmte ich mit ein, wenn auch mit viel Vibrato, weil ich vor Angst zitterte: „Der Wolken Luft und Winden, gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, die dein Fuß gehen kann.“ Und dann spielten wir eine Strophe nach der anderen. Spielten gegen das Dröhnen der Hufe an, spielten, als könne sich unser Lied diesem übermächtigen Heer in den Weg stellen, musizierten gegen unsere Angst, bliesen um unser Leben. Schon sahen wir uns niedergerannt, von Hufen zertrampelt, denn niemand schien diese Reiter stoppen zu können. Doch unser Choral wirkte tatsächlich wie eine feurige Schutzmauer, wie eine feste Burg für uns, in die man sich flüchten kann. Heute bin ich davon überzeugt, dass uns dieses Lied geholfen hat, uns Kraft geschenkt hat, ja dass es uns das Leben gerettet hat. Seitdem weiß ich, was Lieder ausrichten können und welche Macht der Musik innewohnt.
„Krass!“, staunte das Saxophon, das bis dahin atemlos der Erzählung des Flügelhorns gelauscht hatte, „und was passierte dann?“ „Du wirst es kaum glauben“, fuhr das Flügelhorn fort. „Plötzlich drehte das Musikkorps ab und zog seitlich an uns vorbei. ‚Wo reiten sie denn hin?‘, rief ich noch völlig außer mir, bekam aber die Antwort von einer der sieben Posaunen, die immer noch feurig über uns schwebten. ‚Sie reiten in die unermesslich reiche Stadt, um für die rote Herrscherin zu spielen, um der Herrin des Abgrunds ihre schönsten Lieder darzubringen!‘, klagte die Posaune, und es hörte sich so an, als sei sie nun von großer Sorge und Trauer um dieses reitende Heer erfüllt.
Und dann passierte erneut etwas sehr Merkwürdiges. Es schien, als wollten die sieben Posaunen mit ihrer Musik dieses riesenhafte Orchester aufzuhalten versuchen oder es gar dazu bringen umzukehren. Denn jetzt tönten sie nicht mehr majestätisch und erschreckend, sondern unfassbar schön und berührend, so unglaublich berührend, wie nur Musik sein kann. So, als wollten sie wie Orpheus spielen, dem es mit seiner Musik gelang, die betörende Musik der Sirenen zu übertönen, die die Zuhörer magisch anzogen, um sie anschließend zu töten.
Ergriffen standen wir da und lauschten. Und konnten es nicht fassen, dass die Reiter diese himmlische Musik einfach ignorierten, dass nicht einer von ihnen stehen blieb, um ihr zuzuhören. Es schien fast so, als hörten sie sie gar nicht, so sehr waren sie schon gefangen vom dämonischen Klang der Sirenen, vom verführerischen Zauber der Herrin des Abgrunds.“
„Wahnsinn!“, entfuhr es dem Saxophon, „diese Musik hätte ich auch gerne gehört.“ „Oh, du wirst staunen, was noch alles passierte. Immer noch spielten die Posaunen. Noch nie habe ich ein Lied so voller Schönheit, Frieden und Harmonie gehört, so wunderbar. Wir hätten es bis in die Ewigkeit genießen können. Und während wir bewegt diesem Lied lauschten und das Heer allmählich am Horizont verschwand, begann ich irgendwann damit, das Lied mitzuspielen. Einfach so, es ging wie von selbst. Und dann fiel auch die Tuba mit ein, in diese Musik von vollkommener Schönheit und himmlischer Harmonie.
Dann befanden wir uns auf einmal in einem gewaltigen Orchester, das aus tausenden, ja abertausenden Instrumenten bestand. Uralte, prähistorische Flöten aus archaischer Zeit, Tambourine, Harfen und Lauten, die schon vor Jahrtausenden gespielt haben mochten. Rasseln und hell klingende Zimbeln, Schellen und Widderhörner, die ebenfalls aus dem Altertum zu stammen schienen. Buschtrommeln, Panflöten, Posaunen und Trompeten, Pauken, Saxophone und Klarinetten erklangen. Streichinstrumente in frühbarocker Bauweise ertönten neben neuen, modernen Geigen. Cembali und Orgeln, lange ventillose Barocktrompeten, aber auch Jazztrompeten und Flügelhörner, auf denen Louis Armstrong schon gespielt haben könnte, musizierten zusammen mit Sitars aus Indien, Schlaginstrumenten aus Afrika und Charangos aus Südamerika, die vor Freude tanzten, neben karibischen Marimbas, die sich im Rhythmus der Musik bewegten, und amerikanischen E-Gitarren, die ihre Hälse – ausgestreckten Armen gleich – nach oben reckten und im fantastischen Getöse der Musik dem König zujubelten. Dazu erklangen Lauten, Dudelsäcke und Akkordeons, Maultrommeln, Zithern, Mundharmonikas. Und wollte ich alle Instrumente aufzählen, die hier von einem warmen, goldenen Licht umgeben wunderbar musizierten, es würde Tage dauern. Doch das Allergrößte war: Wir beide, ein Flügelhorn und eine Tuba, waren mit dabei, brachten unsere schönsten Klänge dem König dar.“
„Unglaublich“, stammelte das Saxophon immer wieder dazwischen. „Ja, unglaublich! Noch heute bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich daran denke. Es war, als sei das ganze Universum ein einziges klingendes Orchester, das die eine, die vollkommene Komposition spielte, nach der die größten Musiker in Jahrtausenden schon immer vergeblich gesucht hatten, dieses eine neue Lied, nach dem sie sich ein Leben lang gesehnt und das sie mit jedem Lied, mit jeder neuen Komposition dann doch wieder nicht hatten erklingen lassen können, um anschließend noch schönere, noch erhabenere Kunstwerke zu schaffen. Aber jetzt, in diesem Moment, erklang sie: die vollkommene Musik, und erfüllte in ihrer vollendeten Schönheit und ihrem Frieden das gesamte Universum.
Die Bilder des Schreckens, die dürre, brennende Wüste, die unermesslich reiche Stadt, das dunkle, stinkende Meer, die schrecklichen Katastrophen, der Fluss des Blutes und der Tränen, all das, was eben noch Schrecken und Grauen in uns hervorgerufen hatte, war plötzlich wie verwandelt. Es schien, als wären wir in einer völlig neuen Welt gelandet, einer Welt voller Frieden, Licht und Wärme. Wir befanden uns in einem herrlich blühenden Garten, zogen voller Freude an einem klaren Strom entlang, dessen lebendiges Wasser jede Krankheit heilt und an dem sattgrüne Palmen standen. In der Ferne glänzte golden und unbeschreiblich die Stadt des Königs, in der dieser glasklare, atemberaubend schöne Fluss zu entspringen schien.   ‚Hier bleiben wir‘, raunte mir die Tuba ins Ohr. ‚Oh ja‘, entgegnete ich selig. Und wir hätten alles dafür gegeben, dort bleiben und dem König der goldenen Stadt ewig unsere schönsten Melodien spielen zu können.“
Atemlos hatte das Saxophon weiterhin der Erzählung des Flügelhorns gelauscht. „Ihr konntet nicht dort bleiben?“ „Nein, wir mussten zurück. Hierher zurück. Es war so, als wären wir aus einem Traum erwacht. Als der Morgen graute, saßen wir wieder im Proberaum.“ „Ach, wie ernüchternd“, stellte das Saxophon fest. „Den Rest kennst du ja!“, beendete das Flügelhorn seine Erzählung. „Schade, dass das großartige Werk, das zum Empfang des Königs erklingen sollte, nie zustande gekommen ist. Wann haben die Probleme eigentlich angefangen?“„Schon gleich am Anfang. Wir hatten ein Team gebildet, das die Komposition erarbeiten sollte. Aus jeder Musiksparte sollte jemand dabei sein: die Orgel, weil sie musikalisch hochgebildet ist, das Cello, weil es ziemlich vielseitig ist und das Vertrauen der Streicher besitzt, das Keyboard, weil es sich am besten in der Popmusik auskennt, die Konzertgitarre, weil sie in der Klassik, in der Folklore sowie im Jazz zuhause ist, und meine Wenigkeit, als Vertreter des Posaunenchores.“ „Vielleicht war es doch etwas unklug, die Orgel und das Keyboard zusammen in ein Team zu holen“, grinste das Saxophon. „Hätte ich gewusst, dass die sich so in die Haare kriegen ...“ „Jaja, nachher ist man immer schlauer.“ „Die Tuba hatte dann noch die Idee, das Orchester zu erweitern. Aber es ist schwierig, neue Instrumente zu gewinnen“, fuhr das Flügelhorn traurig fort. „Das war aber keine schlechte Idee“, strahlte das Saxophon, „es gibt so viele wunderbare Instrumente, die es bestimmt toll fänden, zum Empfang des Königs zu spielen. Mal abgesehen davon, dass ein richtig großes Orchester noch viel schöner klingen würde.“ „Meinst du, wir sollten noch einmal einen Versuch starten?“ „Vielleicht wäre es ja sogar möglich, Instrumente aus dem reitenden Militärorchester zu gewinnen“, murmelte das Saxophon versonnen und setzte dann begeistert hinzu: „Es wäre großartig, wenn wir Pauken hätten und Klarinetten ...“ „Und bestimmt hättest du nichts dagegen, noch ein Alt- und Tenorsaxophon an deiner Seite zu haben.“ „Und wie wär’s gar mit einem Harmonium?“ „Oh, das haben wir bereits“, sagte das Flügelhorn leise und blickte dabei schuldbewusst nach unten. „Ich hab gar keins gesehen.“ „Konntest du auch nicht, wir haben es nämlich in den Keller geschickt.“ „Ihr habt es in den Keller ...?“ „Das Keyboard meinte, dass seine Zeit vorbei sei.“ „Und dort spielt es jetzt mutterseelenallein: Oh, dass ich tausend Zungen hätte“, lachte das Saxophon derart, dass sogar das Flügelhorn mitlachen musste. „Im Ernst, wie viele Zungen hat ein Harmonium überhaupt?“, wollte das Flügelhorn wissen. „Keine Ahnung, auf jeden Fall mehr als eine Mundharmonika oder ein Akkordeon.“ „Die würden uns in unserer Sammlung noch fehlen“, scherzte das Flügelhorn, das allmählich begann, neuen Mut zu fassen. „Ich find’s toll, dass du jetzt bei uns bist“, sagte es nach einer Weile. „Glaubst du, dass der König wirklich kommen wird?“ Das Flügelhorn schaute seinem neuen Freund fragend in die Augen. „Glaubst du es nicht?“ „Doch, ich glaube es ganz fest!“ „Dann lass uns keine Zeit mehr verlieren“, sagte das Saxophon und erhob sich, „wir sollten uns vielleicht gleich mal mit der Tuba treffen. Ich hab da nämlich ein paar Ideen, wie wir vielleicht aus der verfahrenen Situation wieder herauskommen können.“
Am Nachmittag war es dann so weit. Die Tuba hatte sich dem Saxophon gegenüber schnell geöffnet und bald mit ihm angefreundet. Es war wirklich nicht schwer, dieses liebenswerte Holzblasinstrument als Freund zu gewinnen. Und jeder, der es etwas näher hätte kennenlernen können, hätte das Saxophon gewiss gerne als Gefährten an seiner Seite gehabt. Seine offene und liebevolle Art hatte einfach etwas Ermutigendes. Noch einmal sprachen sie miteinander über das Abenteuer mit den sieben Posaunen. Das Saxophon hatte noch viele Fragen, und die Tuba ergänzte die Erzählung des Flügelhorns mit allerlei Details. Und dann stand die Geschichte so lebendig, so zum Greifen nah vor dem inneren Auge des Saxophons, als wäre es selber dabei gewesen.
An Ende war den dreien klar: Wenn der König wirklich bald kommen würde – und daran hegten sie jetzt keine Zweifel mehr –, dann würden sie ihm mit ihrer Musik einen prächtigen Empfang bereiten müssen. Doch sie wussten auch, dass es nicht leicht sein würde, die anderen noch einmal davon zu überzeugen und auf diesem Weg mitzunehmen. Hatten sie sich nicht schon viel zu weit auseinandergelebt? War es überhaupt denkbar, so unterschiedliche Instrumente wie das Keyboard und die Orgel wieder zusammenzubringen? Und würde es tatsächlich gelingen, noch weitere Instrumente für dieses himmlische Projekt zu gewinnen? Doch das Saxophon hatte schon genügend Ideen, wie sie dabei vorgehen könnten. Und am Ende waren sich die drei darin einig, diese gewaltige Herausforderung erneut anzunehmen.
Abends hatten sich alle Instrumente wieder im Kirchensaal eingefunden, um dort die Nacht zu verbringen. Irgendwie schienen sie sich doch noch wie eine große Familie zu fühlen, obwohl sie sich oft stritten und es ihnen bis dahin noch nicht gelungen war, ihre Vision umzusetzen. Die Atmosphäre war an diesem Abend so locker und entspannt wie schon lange nicht mehr. Die Streicher, zuvor eine eingeschworene, exklusive Gemeinschaft, mischten sich teilweise sogar unter die anderen. Das Cello und das Keyboard standen zusammen und plauderten, die Geige war mit einem Waldhorn im Gespräch und der E-Bass schäkerte mit dem Kontrabass. Schließlich gesellte sich auch noch die Tuba zu den beiden Basskollegen: „Ups, Bass, bässer, am bässten“, scherzte sie. „Unsere Tuba strahlt ja heute über ihren ganzen Trichter“, stellte der Kontrabass lachend fest. „Du gibst den Einsatz für den Dichter“, brummelte der E-Bass, „ihr habt ja beide lachende Gesichter.“ Und dann lachten alle drei. „Scherz beiseite“, fuhr der Kontrabass fort, „dir scheint es ja heute wirklich gut zu gehen.“ „Das Saxophon ist daran schuld. Es hat mir Mut gemacht, wieder an unsere Vision zu glauben.“ „Oh, interessant – ich bin gespannt.“ Der E-Bass konnte es einfach nicht lassen herumzukaspern. „Das darfst du auch sein, Basskollege. Ich bin sicher, dass hier heute noch einiges passieren wird.“ Und damit sollte die Tuba recht behalten.
Das Saxophon hatte sich inzwischen mit den meisten bekannt gemacht. Die Streicher waren ihm, mit Ausnahme des Cellos, zwar noch etwas reserviert begegnet, aber das würde, so hoffte es, bestimmt noch besser werden. Wahrscheinlich brauchten sie nur noch etwas Zeit. Lediglich die Orgel schien ein hoffnungsloser Fall zu sein. Sie hatte außer einem kurzen Schnaufer ihres gewaltigen Blasebalgs – woran man erkennen konnte, dass sie zumindest nicht schlief – nichts weiter von sich gegeben.
Jetzt standen die drei neuen Freunde zusammen. „Ich glaube, der Zeitpunkt ist günstig!“ Das Flügelhorn war so aufgeregt, dass es ganz feuchte Ventile bekam: „Ich bin total gespannt darauf, dich spielen zu hören.“ Die Tuba räusperte sich. „Ups – alle mal herhören! Ups!“ Das Stimmengewirr nahm langsam ab. „Wir freuen uns, jetzt einen neuen Kollegen aus der Familie der Holzblasinstrumente unter uns zu haben, und begrüßen das Saxophon noch einmal ganz herzlich!“ Applaus ertönte. „Wieso Holzblasinstrumente?“, rief das Keyboard in den Applaus hinein, „ich seh nur Metall!“ Die sensiblen, aber weitaus gebildeteren Streichinstrumente stöhnten leise und verdrehten die Augen. „Auch wenn sein metallischer Korpus vielleicht etwas anderes vermuten lässt“, säuselte eine Geige, „gehört es dennoch zu den Holzblasinstrumenten, da sein Ton mit Hilfe eines Rohrblattes erzeugt wird.“ „Ups, danke! Das hätte ich nicht besser erklären können“, schmunzelte die Tuba, die früher einmal Mitglied in einem Symphonieorchester gewesen war und damit ebenfalls auf eine akademische Laufbahn zurückblicken konnte. „Und nun, liebe Kolleginnen und Kollegen“, fuhr die Tuba fort, „darf ich um eure geschätzte Aufmerksamkeit bitten. Das Saxophon wird uns nun eine kleine Kostprobe seines Könnens geben!“
Alle schauten nun gespannt auf das Saxophon. Dann begann es zu spielen. Zunächst waren es nur einige langgezogene Töne, die langsam durch den Raum schwebten. Dann begann es, während es das Intro intonierte, sich elegant durch den Raum zu bewegen, vorbei an den Bandinstrumenten, den Bläsern, den Streichern. Schließlich entwickelte sich wie von selbst eine wunderschöne Melodie, die aus der Zeit der Romantik hätte stammen können. Warm und weich flossen die Töne durch den Raum und wurden durch den Hall des Kirchensaals wunderbar davongetragen. Einmal klang es wie der zarte, näselnde Klang einer Oboe, dann wieder – in den tiefen Lagen – glaubte man, den Charakter einer menschlichen Stimme zu vernehmen. In immer neuen, kunstvollen Variationen improvisierte das Saxophon das Thema dieser klassisch anmutenden Melodie. Ergriffen standen die Streicher und Bläser da und lauschten. Und auch die Orgel war angetan von der Reinheit und dem sich ständig ändernden Charakter des Tons in den Improvisationen des Saxophons.
Inzwischen war es wieder vorne beim Flügel angekommen, wo es nun stehen blieb. Der Flügel was so fasziniert, dass er sich bereits die passenden Harmonien zur Melodie ausgedacht hatte und nun damit begann, leise, mit einigen sparsamen, aber wirkungsvoll gesetzten Akkorden, das Saxophon zu begleiten. Und so, als wollte er eine Brücke schlagen zwischen den Stilen und den Instrumenten, den Generationen und den Kulturen, versah er die Harmonien nach und nach mit einigen Jazz- und Popelementen.
Nun setzte der Kontrabass ein. Hier musste er einfach mitspielen. Er konnte gar nicht anders. Mit perfektem, rhythmisch akzentuiertem Pizzicatospiel, bei dem die Seiten gezupft werden, verlieh er dem vom Flügel geschaffenen Klangraum auf einmal eine völlig neue, groovige Dimension. Längst hatte das Saxophon die Grenzen der klassischen Musik hinter sich gelassen, um über die Harmonien, die Flügel und Kontrabass vorgaben, frei zu improvisieren. In diesem Moment begann das Schlagzeug, mit einfühlsamer Besentechnik den Groove des Kontrabasses zu unterstreichen. Mit einem Mal gesellte sich die spanische Konzertgitarre dazu, um die Pausen mit sensibel gespielten Läufen zu füllen, und da konnte auch die E-Gitarre nicht mehr an sich halten. Sachte und gefühlvoll legte sie Akkord um Akkord auf das nunmehr unweigerlich unter die Haut gehende Stück. Und weiter reihte sich Überraschung an Überraschung. Sogar das Harmonium, das aus dem Keller nach oben gekommen war, traute sich jetzt mitzumachen. Mit Stilbewusstsein legte es ein paar von unglaublich einfühlsamer Dynamik geprägte Akkorde wie einen weichen, mal lauter und dann wieder leiser fließenden Strom auf das Arrangement, so gefühlvoll, wie es nur einem Harmonium gegeben ist. Anschließend begannen sogar die Streicher zu spielen. Rein und klar musizierten sie mit sattem Bogenstrich nun das Thema des Stückes als wunderschönen Streichersatz. Die Tuba und das Flügelhorn konnten nicht fassen, was sich hier ereignete. Eine Gänsehaut nach der anderen lief der Tuba den mächtigen Schalltrichter herunter. Hoffentlich würde ihr Messing später nicht aussehen wie nach einem Hagelschaden. Und am Ende verebbte das Musikstück so organisch, wie es angeschwollen war, bis nur noch das Saxophon spielte. Leise, fast zärtlich, ließ es die letzten Töne im Hall des Kirchensaals ausschwingen.
Als die letzte Schallwelle verklungen war, herrschte einige Sekunden lang Stille. Eine ungeheure Spannung, ja Ergriffenheit lag in der Luft. Und jedes der Instrumente spürte, dass sich hier etwas ganz Besonderes ereignet hatte, etwas, das nur die Musik vermag: zu berühren, Brücken zu bauen und Herzen zueinanderzuführen. Wenn nur jemand einmal den Mut hat, den ersten Schritt zu wagen.
Dann brach der Applaus los, den selbst die Orgel mit einem tiefen brausenden Ton aus der 16′-(Fuß)-Posaune untermalte. „Beim nächsten Mal machen wir auch mit!“, riefen einige Bläser, die es so schnell nicht geschafft hatten, einen passenden Bläsersatz zu schreiben, und die wohl auch ihren Einsatz verpasst hatten. Das Saxophon stand bewegt da und rang nach Worten: „Es hat unglaublich viel Freude gemacht, mit euch zu spielen!“ In diesem Moment beschloss selbst die Orgel, ihr Schweigen zu brechen: „Danke“, sagte sie nur, „das war großartig.“ Und solche langen Reden hörte man von ihr selten.

Es war schon heller Morgen, als Sebastian Obermeier wach wurde. Erschrocken stellte er fest, dass das Display seines Weckers schon 9.46 Uhr anzeigte. Er hatte total verschlafen. Offensichtlich hatte er gestern Abend – oder war es schon früher Morgen? – vergessen, den Wecker zu stellen. Dabei wollte er sich um zehn Uhr zu einem Dienstgespräch mit seinem Praktikanten treffen. Er griff zum Handy und rief diesen an, um ihm mit der peinlichsten aller Entschuldigungen mitzuteilen, dass er verschlafen habe und deshalb etwas später kommen werde.
In diesem Moment fiel ihm sein merkwürdiger Traum wieder ein. Er sprang vom Bett auf, um sein Saxophon zu holen, und fand es im Koffer liegend auf dem Sideboard. Vorsichtig, fast zärtlich nahm er es in die Hand und schaute es lange versonnen an. Dann legte er sich den Tragegurt um den Hals und begann zu spielen. Mal weich, mal klar, dann wieder rauchig und heiser schallten die Töne durch das Haus. Er spielte und spielte, legte sein ganzes Herz in die Musik und vergaß dabei die Zeit und auch seinen Termin. Und die Musik blieb nicht im Raum, sie schwang sich empor zum Himmel, um die Grenzen von Raum und Zeit zu überwinden, weil ihr die Seele des Musikers Flügel verlieh.

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