Der Graf, der in keinen Rahmen passt
Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf
Kollage über den Erfinder der Losungen von Werner Hoffmann
Erzähler: Es war im Jahr 1728 in Herrnhut, als Reichsgraf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und Pottendorf den Mitgliedern der Brüdergemeine nach einer Singstunde einen kurzen Liedvers als Losung für den nächsten Tag ausgab. Bald liefen die Brüder am frühen Morgen in Herrnhut von Haus zu Haus und riefen die „Parole“ für den Tag durch die Tür. Damit begann der Siegeszug der „Herrnhuter Losungen“, die heute für Millionen Christen einen wichtigen Begleiter durch den Tag darstellen.
Wer war dieser fromme Graf, der seine Karriere als Hof- und Justizrat am kursächsischen Königshof aufgab, um sich der Glaubensflüchtlinge aus Mähren anzunehmen, die er auf seinem Landsitz zuvor aufgenommen hatte? Was bewog ihn dazu, sich über Standes- und Konfessionsgrenzen hinwegzusetzen, sogar zwischen Männern und Frauen keinen Unterschied zu machen, womit er seiner Zeit mehr als voraus war?
Musik
Hoffmann: Ich möchte Sie auf eine Reise mitnehmen. Sie führt uns nach Herrnhut, einer kleinen Stadt in der Oberlausitz. Es ist aber auch eine Reise in die Vergangenheit, die bis ins Jahr 1700 zurückgeht, das Jahr, in dem Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf geboren wurde.
Wir durchstreifen die Oberlausitzer Hügellandschaft, im äußersten Südosten Sachsens gelegen und geprägt von Feldern, kleinen Wäldern und Wiesen, die weiter unten im Süden auf die Zittauer Berge mit ihren schroffen Felsen aus Granit und Sandstein treffen. Beschauliche Ortschaften schmiegen sich harmonisch in die sanfte Hügellandschaft ein, so wie unser Ziel Bertelsdorf, die ehemalige Herrschaft des Grafen Zinzendorf. Hier befindet sich das barocke Zinzendorf-Schloss, das – in letzter Minute vor dem Verfall gerettet – heute in neuem Glanz erstrahlt. Wir gehen zur schlichten lutherischen Kirche hinüber, die hellgelb in der Sonne leuchtet und mit ihrem fast zart wirkenden, anmutig emporstrebenden Turm wunderbar in diese reizende Landschaft passt. Hier wirkte einst der Pfarrer Johann Andreas Rothe, der mit dem Grafen Zinzendorf und dessen Werk aufs Engste verbunden war. Weiter geht es die Hänge eines idyllischen Tals hinauf in das kleine Städtchen Herrnhut. Dort angekommen, durchqueren wir die quadratische Platzanlage mit dem zentralen Kirchsaal. Auffallend die in Form geschnittenen, jetzt im Frühsommer wunderbar duftenden Lindenalleen. Sie verbinden den Ort Herrnhut mit dem „Gottesacker“, der etwas außerhalb, am Fuße des Hutbergs, liegt. Den Eingang des Friedhofs umrahmt ein steinerner Torbogen. Und immer wieder Linden, die unterstützt von Hainbuchenhecken die einzelnen Felder des Friedhofs umsäumen. Links und rechts Gräberreihen aus schlichten, flachen Steinen. Dann stehen wir am Grab Zinzendorfs, der zwischen seinen beiden Ehefrauen begraben liegt: der hochadeligen Erdmuthe, die von den zwölf Kindern, die sie zur Welt brachte, acht bereits im Kindesalter wieder begraben musste, und der einfachen Bauerstochter Anna. Der Graf bewegte sich auch zu Lebzeiten in diesem Spannungsfeld. Ob es nun Adelige oder Sklaven waren, er wollte unterschiedslos mit allen Christenmenschen in brüderlicher Gemeinschaft leben. „Er war gesetzt, Frucht zu bringen und eine Frucht, die da bleibet“, steht auf seinem Grabstein. Geblieben ist viel von diesem Grafen, dessen 250. Todestag wir 2010 gefeiert haben. Während wir weiter durch die stillen Gräberreihen gehen, stelle ich mir für einen Moment vor, der Graf würde uns jetzt ein Stück begleiten, würde uns bereitwillig auf unsere Fragen hin aus seinem Leben erzählen.
Musik
Hoffmann: Herr Zinzendorf, von den 2000 Liedern, die Sie geschrieben haben, gehört „Jesu geh voran“ wohl zu den bekanntesten. Es heißt darin: „Jesu geh voran auf der Lebensbahn! Und wir wollen nicht verweilen, dir getreulich nachzueilen; führ uns an der Hand bis ins Vaterland.“ Ist das Leben eine Reise?
Zinzendorf: Mal abgesehen davon, dass ich wohl die meiste Zeit meines Lebens auf Reisen war, gleicht unser Christenleben tatsächlich auch einer Reise. Wir sind hier nicht zu Hause, sondern nur Durchreisende zum Vaterland. Aber wir sind ja zum Glück nicht allein unterwegs. Unser Herr und Heiland Jesus geht mit uns. Mehr noch: Er geht uns voran und zeigt uns den Weg.
Hoffmann: Sie sind ja schon ganz früh in Ihrem Leben auf Reisen gewesen. Schon mit vier Jahren zogen Sie von Dresden aufs Wasserschloss Ihrer Großmutter nach Hennersdorf, wo Sie die nächsten sechs Jahre lebten. Mit zehn Jahren ging es dann nach Halle ins Internat, von dort gingen Sie nach Wittenberg zum Studium. Endlich brachen Sie dann zu Ihrer ersten wirklich großen Reise auf, der Kavaliersreise ...
Atmo
Erzähler: An einem Tag im April des Jahres 1720 holpert eine Kutsche über das raue Pflaster einer Landstraße. Die Reisegesellschaft besteht aus zwei Personen: dem 19-jährigen Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und dem Hofmeister Rieder. Paris hieß die letzte Station ihrer Reise, jetzt soll es über Straßburg, Basel und Zürich wieder zurück nach Deutschland gehen. Fast ein Jahr hat diese sogenannte Kavaliersreise gedauert, eine Art Studienreise, die für die Erziehung und Bildung eines jungen Grafen als obligatorisch gilt. Der Aufbruch aus Wittenberg, wo der junge Graf die Jurisprudenz studiert hatte, war in aller Eile geschehen. Dem Studenten hatte es in der Stadt Luthers nämlich die Theologie viel mehr angetan als die Juristerei. Die betrieb er zwar durchaus auch fleißig, doch hinderte ihn das nicht daran, sich in jeder freien Minute der Lektüre der Bibel und sonstiger theologischer Schriften zu widmen. Als er dann eines Tages seiner Mutter gegenüber den Wunsch äußerte, ganz in die Theologie wechseln zu dürfen, musste von Seiten der Adelsfamilie schnell gehandelt werden. Der Beruf eines Pfarrers ist für einen Grafen absolut inakzeptabel, nicht im Entferntesten standesgemäß. Längst hat man für den jungen Adligen eine Stellung als Rat am kursächsischen Königshof vorgesehen. Deshalb schickte ihn seine Familie aus taktischen Gründen erst einmal ins Ausland, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Auf dem ersten Teil der Reise hat ihn noch sein Stiefbruder Friedrich Christian begleitet, während Hofmeister Riederer ihm die ganze Zeit über zu Diensten steht.
Musik
Die Gedanken des jungen Grafen gehen zurück. Er ist noch ganz erfüllt von dem, was er in Paris erlebt hat. Eigentlich wollte er gar nicht in die französische Metropole. Vor ein paar Monaten äußerte er sich noch sehr kritisch über diese Stadt und mit ihrem „espri du monde“, ihrem „Geist der Welt“. Aber das Klima in Utrecht hatte ihm so zugesetzt, dass er schließlich gerne nach Frankreich aufbrach. Ein halbes Jahr verbrachte er dort, und jetzt, am Ende seiner Kavaliersreise, ist er froh darüber. Sein ausgezeichnetes Französisch hat ihm zu einer intensiven Begegnung mit der französischen Lebensart verholfen, wie sie gerade in ganz Europa sehr modern ist.
Während die Kutsche sich Straßburg nähert, packt Ludwig ein Porträt aus, das er in Paris von sich hat malen lassen. Seitdem fehlte ihm die rechte Zeit, es genauer zu betrachten. Ein Lächeln huscht nun über das Gesicht des Grafen. „Belle hat mich wirklich gut getroffen, nur die Nase hätte er vielleicht – na, sagen wir mal: etwas feiner malen sollen.“ Der Hofmeister lacht und wirft einen schnellen Seitenblick auf Zinzendorf: „So so, die Nase ...“ Dann betrachtet er ebenfalls das Bild. Es zeigt den Grafen als Aristokraten, als vornehmen Staatsmann, mit olivgrünem Samtrock, an dem goldene Tressen blinken. Die Perücke verleiht dem jugendlichen Antlitz Würde und unterstreicht, dass es dem Reichsgrafen an Standesbewusstsein wirklich nicht fehlt. Das Gesicht aber bildet einen merkwürdigen Kontrast zur Ausstattung des Grafen. Es hat weiche Züge, die Augen blicken den Betrachter keinesfalls stolz oder hochmütig, sondern eher fragend und freundlich an.
Der Graf hebt den Blick und schaut durch das offene Seitenfenster der Kutsche. Grüne Wiesen, gelb übersäht mit Löwenzahn, säumen die Straße. Die Kutsche durchquert eine Allee aus alten Linden, die kaum Schatten werfen, weil ihr zartes grün die Sonne noch durchscheinen lässt. Alles ist an diesem außergewöhnlich warmen Frühlingstag von Licht durchflutet und hell. So wie das Leben des Grafen. Von Geburt privilegiert, hat er als Angehöriger des europäischen Hochadels eine umfassende Bildung genossen, spricht fließend Latein und Französisch, hat Griechisch und Hebräisch gelernt und ist zudem in Mathematik und Geografie bewandert. Dazu das Studium der Rechtswissenschaften. Einer glänzenden diplomatischen Karriere steht also nichts mehr im Wege, und seine Familie hat bereits entsprechende Vorkehrungen getroffen. Aber will er das? Eigentlich ist ihm das intrigante, genusssüchtige und oft leere Leben des Adels zuwider, sehnt sich sein Herz nach etwas ganz anderem. Aber gegen den übermächtigen Einfluss seiner Adelsfamilie wird er sich als 19-Jähriger wohl kaum durchsetzen können.
Die Konturen des Porträts, das er eben noch betrachtet hat, verschwimmen langsam vor seinen Augen. Zinzendorf sieht sich durch dessen Schleier plötzlich als kleinen Jungen, der gedankenverloren sein Spiegelbild in einem Wassergraben betrachtet. „Lutz!“, hört er seine Tante Henriette rufen, „wo treibst du dich denn schon wieder herum? Hast du denn schon wieder den Unterricht vergessen? Herr Edeling wartet bereits auf dich.“ Der Junge schaut erschrocken auf und sieht seine Tante Nettchen – die er neben seiner Großmutter am meisten liebt – auf der Brücke über den Wassergraben stehen und winken. Den Unterricht hatte er wirklich schon wieder vergessen. Stillsitzen, das kam für ihn, den kleinen Jungen mit dem unbändigen Bewegungsdrang und den tausenderlei Flausen im Kopf, einer Strafe gleich. Aber den Unterricht mit seinem Hauslehrer Christoph Ludwig Edeling mochte er trotzdem. Keiner seiner Lehrer – außer seiner Tante Nettchen, der unverheirateten Schwester seiner Großmutter – konnte so wunderbar über den Heiland sprechen wie er. Mit einem Mal ist diese Zeit auf dem wunderschönen Wasserschloss in Hennersdorf in der Oberlausitz wieder lebendig. Nachdem sein Vater nur sechs Wochen nach seiner Geburt gestorben war und die Mutter vier Jahre später wieder geheiratet hatte, war der kleine Lutz in die Obhut der Großmutter nach Hennersdorf gekommen. Das bedeutete ein großes Glück für ihn. Die Landvögtin Katharina von Gersdorf war eine fromme Frau und dabei ungemein gebildet. Sie sprach fließend Französisch, Italienisch und Latein und las die Bibel in ihren Ursprachen Hebräisch und Griechisch. Als Witwe verwaltete sie drei große Güter in der Oberlausitz, samt dazugehöriger Dörfer. Eine große Aufgabe, die ihre Tage mehr als ausfüllte.
Ein warmes Gefühl der Dankbarkeit durchströmt den Grafen, als er an seine liebe Großmutter denkt. Er verdankt ihr unglaublich viel: Eine hervorragende Erziehung und dabei viel menschliche Wärme und liebevolle Zuwendung sind ihm durch sie zuteilgeworden. Doch das ist noch nicht alles. Die Großmutter fühlte sich zum Pietismus hingezogen, einer protestantischen Erneuerungsbewegung, bei der persönliche Frömmigkeit und emotionale Wärme, vor allem aber die Liebe zum Nächsten besonders betont wurden. Das hat tiefe Spuren in seinem Leben hinterlassen. Schon als Junge liebte er es, wenn man sich im Schloss morgens und abends zum Singen, Beten und Bibellesen versammelte. Auch die Hauslehrer, die ihn seit seinem vierten Lebensjahr unterrichteten, waren überwiegend Kandidaten der Theologie. Berühmte Persönlichkeiten und große Theologen wie der Begründer des Pietismus, Philipp Jakob Spener, und der Gründer der berühmten Frankeschen Anstalten, August Herrmann Franke, verkehrten damals bei seiner Großmutter. Am meisten aber beeindruckte ihn immer seine Großmutter selbst. Tagsüber war sie sehr beschäftigt mit der Verwaltung ihrer Güter, den vielen Gästen und der umfangreichen Korrespondenz, die sie führte. Aber Lutz durfte in ihrem Zimmer schlafen. So hatte er sie abends dann endlich ganz für sich alleine. Die tiefe Frömmigkeit dieser gebildeten Frau hat ihn geprägt. Die Art, wie sie beim Abendgebet mit „dem Heiland“ redete, berührte ihn schon als kleiner Junge tief. Von ihr hat er gelernt, dass man mit Jesus wie mit einem guten Freund oder einem älteren Bruder sprechen kann. Einmal schrieb er seinem Jesus-Bruder sogar Briefe und warf sie dann vom Balkon des Schlosses herunter. Dabei hegte er keinen Zweifel daran, dass Jesus die Briefe finden würde.
Er wäre ja gerne bei seiner Großmutter geblieben. Doch seine Mutter entschied, dass er als Zehnjähriger ins Adelspädagogium nach Halle gehen sollte. Diesen Plan setzte sie gegen die Großmutter und sogar gegen seinen Vormund, den Generalfeldzeugmeister Otto Christian von Zinzendorf, durch. Dieser lehnte Halle wegen dessen pietistischer Prägung entschieden ab. Er werde keinen Heller dafür bezahlen, polterte der Vormund damals. Doch die Mutter Charlotte und der Stiefvater Feldmarschall Dubislav Gneomar von Natzmer übernahmen die Kosten für das Internat. So kam er also zehnjährig in das berühmte Internat nach Halle, wo der Theologe August Herrmann Franke in einer Zeit, in der es in Deutschland noch keine Schulpflicht gab, eine hervorragende Ausbildungsstätte geschaffen hatte, die sowohl Waisenkindern als auch Adelssöhnen offenstand.
Die ersten drei Jahre gestalteten sich allerdings nicht leicht für Lutz. Die radikale Strenge, zehn bis zwölf Stunden Unterricht täglich und eine strikt geregelte Freizeit, das war schwer für einen Jungen, der bisher so viel Freiheit gewohnt gewesen war. Doch das alles hätte ihm wahrscheinlich gar nicht so viel ausgemacht, wenn die äußeren Umstände anders gewesen wären. Seine Mutter hatte nämlich darauf bestanden, ihn nicht mit den anderen Schülern zusammen, sondern in einer Wohnung in der Stadt unterzubringen. Außerdem war ihm ein Hofmeister als ständiger Diener zur Seite gestellt worden. Bei den Mahlzeiten musste Lutz einen Ehrenplatz neben dem Gründer der Anstalt Franke und seiner Gemahlin einnehmen. Das alles ließ dem Jungen wenig Freiraum für Kontakte und rief Neid und Missgunst bei seinen Mitschülern hervor. So wurde er schnell zum Außenseiter. Hänseleien, Streiche und sogar Verleumdungen seiner Schulkameraden waren bald an der Tagesordnung. Hilflos versuchte er sich dagegen aufzulehnen, fiel schließlich durch flegelhaftes Benehmen auf und wurde wegen unleserlicher Schmierereien in seinen Heften getadelt. Die Intrigen und Verleumdungen seines Hofmeisters Daniel Crisenius schließlich gaben ihm den Rest. Er vermochte diesem Druck irgendwann nicht mehr standzuhalten und brach nach drei Jahren völlig zusammen.
Gott sei Dank konnte er sich aber in einer dreimonatigen Genesungspause bei seiner Großmutter langsam wieder erholen. Erst danach besserte sich die Situation in Halle für ihn allmählich. Endlich fand er Freunde und gründete mit ihnen einen Bibelkreis, aus dem später ein richtiger Orden, der „Senfkornorden“, hervorging. Als er schließlich begann, sich in Halle wohlzufühlen, und seine Lehrer seine außergewöhnliche Begabung langsam erkannten, war die Zeit in Halle auch schon fast vorbei. Zum Studium der Jurisprudenz ging er nach Wittenberg, wo er es auch vor Anbruch seiner Kavaliersreise beendete.
Ludwig legt das Porträt zur Seite, das er schon lange nicht mehr betrachtet hat. „Wo sind wir?“, fragt er irritiert den Hofmeister. „Sie scheinen ja ganz weit weg gewesen zu sein.“ Der Hofmeister lacht. „Da vorn ist eine Poststation“, hört Ludwig den Kutscher von draußen rufen. „Wenn seine Hochwohlgeboren erlauben, könnten wir eine Pause einlegen. Die Pferde benötigen Wasser und Futter“. „Und nicht nur die!“, schallt es vom Hofmeister zurück. „Ich könnte auch etwas essen, und der Graf sieht mir auch schon ganz hungrig aus ...“
Musik
Hoffmann: Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Wenn Sie heute noch einmal an diese Kavaliersreise zurückdenken. Was hat sie damals denn besonders bewegt?
Zinzendorf: Das war gleich zu Beginn der Besuch der Gemäldegalerie in Düsseldorf. Wir haben uns wohl Hunderte der herrlichsten Bilder angeschaut, davon ist mir aber eigentlich nur eines in Erinnerung geblieben: ein Gemälde Domenico Fetis mit dem Titel „Ecce Homo!“ – „Seht, welch ein Mensch“ –, dem Ausspruch des Herodes, als er den geschundenen Christus mit der Dornenkrone sah. Dieses Bild stellte das sehr eindrücklich dar. Darunter standen auf Latein die Worte: „Ich habe dies für dich gelitten. Du aber, was hast du für mich getan?“ Diese Worte trafen mich wie ein Pfeil mitten ins Herz.
Hoffmann: Obwohl Sie damals doch schon gläubig waren?
Zinzendorf: Ich liebte Jesus ja schon als Kind von ganzem Herzen. Auch damals auf dieser Reise las ich täglich in der Bibel und versuchte nach dem Wort Gottes zu leben. Aber irgendwie schien mir das im Vergleich zu dem, was Jesus für mich getan hat, fast belanglos zu sein. Die Frage unter dem Gemälde hat mich dann auf der ganzen Reise nicht mehr losgelassen.
Redkakteur: Sie setzten dann in Utrecht ihre juristischen Studien fort ...
Zinzendorf: Eigentlich mehr schlecht als recht. Die Sommerpause hatte schon begonnen. So war an der Universität nicht viel los. Ich habe dann, um die Zeit zu sinnvoll zu nutzen, theologische Bücher gelesen. Aber nicht nur das. Ich beschäftigte mich mit dem Niederländischen und begann auch Englisch zu lernen. Daneben gab es natürlich die unausweichlichen gesellschaftlichen Verpflichtungen, denen ich mich als Graf zu unterwerfen hatte, wie Reit-, Fecht- und Tanzunterricht.
Hoffmann: Tanzunterricht?
Zinzendorf: Ich gebe zu, den mochte ich nicht so sehr. Aber Reiten und Fechten haben mir sehr viel Spaß gemacht (lacht). Ich galt später in Dresden sogar als der beste Degenfechter. Da hat es keiner so schnell mit mir aufnehmen können. Was das Reiten angeht, erinnere mich noch, wie man mir in Paris einmal das feurigste Pferd unterschob in der Hoffnung, dass es mich abwerfen würde.
Hoffmann: Konnten Sie sich denn im Sattel halten?
Zinzendorf: Ich hielt mich ganz ausgezeichnet im Sattel (lacht), obwohl man es gerne gesehen hätte, wenn sich der fromme Graf aus Deutschland so richtig blamiert hätte.
Hoffmann: Wir sprachen ja über Ihren Aufenthalt in Holland. Was hat sie denn dort am meisten fasziniert?
Zinzendorf: Bestimmt nicht das Wetter (lacht). Was für mich dort unvergesslich blieb, war die Begegnung mit Christen aus ganz verschiedenen Glaubensrichtungen, wie den Reformierten, Lutheranern, Katholiken, Menoniten, Anglikanern. Einmal besuchte ich sogar einen armenischen Gottesdienst. Und ich fand überall Menschen, die Gott wirklich von ganzem Herzen liebten, ungeachtet der lehrmäßigen Unterschiede. Das hat damals meinen Horizont enorm erweitert.
Hoffmann: Sie gingen dann nach Paris.
Zinzendorf: Der Aufbruch von Utrecht geschah überhastet. Das Klima in den Niederlanden war mir überhaupt nicht bekommen. Als ich mich dann etwas in Paris erholt hatte, wurde ich schon wieder krank. Es grassierten damals ja die Pocken in der Stadt und ich dachte schon, ich hätte mich angesteckt. Ich fühlte mich so elend, dass es mir schien, als müsse ich sterben. Es war eine schreckliche Zeit. Die Ärzte ließen mich zu Ader, schnitten mir ins Gesicht. Hier, die Narben können Sie heute noch sehen ... Schließlich ging es mir aber Gott sei Dank besser.
Hoffmann: In Erinnerung an diese Zeit schrieben Sie später: „Ich fasste in aller Stille den Entschluss, Gott beständig und allein zu dienen. Von der Stunde an versprach ich dem Heiland mit viel 1000 Tränen, sein armer Nachfolger zu werden und auch die Absicht, die ich bisher gehabt, in weltlichen Dingen seinem Reich zu dienen, ihm gänzlich aufzuopfern und hinzugeben.“ Für einen 19-jährigen Grafen ist das ein ungewöhnlicher Entschluss.
Zinzendorf: Ja, denn es bedeutete für mich, auf Ehre und Ansehen zu verzichten, mich über Standesgrenzen hinwegzusetzen und mich trotz des Verbotes meiner Familie der Theologie zuzuwenden.
Hoffmann: Sie haben ja später manche Versuche unternommen, um anerkannter Geistlicher zu werden, haben erfolgreich ein theologisches Examen abgelegt, die Tübinger Fakultät bot ihnen sogar den Doktor der Theologie an. An selbigem Ort erhielten Sie schließlich die Predigerlaubnis, allerdings keine anerkannte Ordination zum Geistlichen, weil dafür ja nicht die Universität, sondern die Kirche zuständig ist. Wähnten sie sich damals trotzdem am Ziel ihrer Wünsche?
Zinzendorf: Eigentlich saß ich damit zwischen allen Stühlen. Die Kirche verweigerte mir die Ordination, wegen der Ereignisse in Herrnhut. Auf der anderen Seite brachten mir viele Angehörige meines Standes Verachtung entgegen, weil ich ein geistliches Amt anstrebte, was in ihren Augen für einen Grafen absolut unwürdig war.
Hoffmann: Ihre eigentliche Leidenschaft galt aber der Idee einer verbindlichen Gemeinschaft, in der die Mitglieder einander lieben und dienen, in der es aber nicht um eine bestimmte Kirchenzugehörigkeit geht.
Zinzendorf: Ich wollte nie eine neue Kirche gründen. Im Gegenteil! Ich habe die Brüder immer ermutigt die Kirche nicht zu verlassen, sondern von dort aus zu wirken.
Hoffmann: Die letzte größere Station Ihrer Kavaliersreise war, wie schon gesagt, die französische Hauptstadt. Dort freundeten Sie sich sogar mit dem katholischen Kardinal Noailles an. Später haben Sie über diese Begegnung geschrieben. „Dass wir denn ein halb Jahr mit himmlisch Vergnügen beisammen waren und uns nicht besannen, was für einer Religion einer oder der andere war.“ Das finde ich erstaunlich. Ein frommer Protestant, der aber nicht einmal ein Theologiestudium absolviert hat, freundet sich mit einem französischen Kardinal an. Passte das denn zusammen?
Zinzendorf: Wir empfanden schon gleich zu Anfang große Sympathie füreinander. Ich war jedenfalls überrascht von so viel Höflichkeit und Freundlichkeit.
Hoffmann: Wollte der Kardinal sie denn nicht für die katholische Kirche gewinnen?
Zinzendorf: Am Anfang versuchte er es. Ich weiß noch genau, wie er mir schmeichelte, dass ein Mann meines Standes ein Segen für die Kirche sein könnte usw. Ich habe dann aber deutlich gemacht, dass es keinesfalls meine Absicht war, mich der katholischen Kirche zuzuwenden.
Hoffmann: Haben Sie denn versucht ihn zu bekehren?
Zinzendorf: (lacht) Das habe ich am Anfang tatsächlich. Schließlich haben wir aber beide eingesehen, dass es keinen Sinn hat, den anderen überreden zu wollen.
Hoffmann: Sie schrieben damals sogar eine Abhandlung in lateinischer Sprache über die Unterschiede zwischen evangelischem und katholischem Glauben.
Zinzendorf: Ganz recht. Dabei wollte ich mir aber zunächst auch selber Klarheit darüber verschaffen, was wir als Lutheraner glauben. Der Kardinal hat diese Arbeit sehr interessiert gelesen und wir haben dann auch viel darüber diskutiert. Aber da hatten wir uns schon gegenseitig als Kinder Gottes von Herzen lieben gelernt. Was mir an ihm besonders gefiel, war die Tatsache, dass er zumindest damals noch – später hat er seine Einstellung ja leider geändert – Rom und dem Papst gegenüber kritisch eingestellt war.
Hoffmann: Inwiefern?
Zinzendorf: Es war damals eine französische Bibelübersetzung in Umlauf, die der Papst verbieten lassen wollte. Noailles stand aber der Verbreitung dieser französischen Bibel positiv gegenüber. Das gefiel mir. Auf jeden Fall hat mich die Begegnung mit dem Kardinal damals in meiner inneren Entwicklung einen großen Schritt nach vorne gebracht.
Hoffmann: Was genau ist da bei Ihnen passiert?
Zinzendorf: Ich erkannte, wie wenig Konfessionsgrenzen zu trennen vermögen, wenn man den anderen als Kind Gottes sieht und sich als Christ gegenseitig annehmen und lieben kann. Ich glaube nicht, dass wir am Ende einmal danach gefragt werden, welcher Konfession wir angehört haben. Da wird uns dann der Heiland nur die eine Frage stellen, die er auch dem Petrus nach Ostern stellte: Hast du mich lieb? Sehen Sie, Glaube, der im Leben trägt, steht doch nicht auf dogmatischen Füßen, hält sich nicht an lehrmäßigen Aussagen fest. Er ist in der Seele, im Herzen und im Leben verankert. Das hatte ich bei meiner Reise in Holland ja schon erkannt, als ich dort mit Christen aus ganz unterschiedlichen Konfessionen zusammentraf. Gott hat sein Volk nicht nur in einer Konfession, sondern in vielen Kirchen. Das bedeutet nicht, dass ich mein lutherisches Erbe gering achte. Diese Vision, die ich damals entwickelte, die Familie des Heilands in allen Kirchen zu suchen und zu sammeln, ist bis heute meine treibende Motivation geblieben.
Hoffmann: Sitzt man aber mit einer solchen Überzeugung nicht zwischen allen Stühlen?
Zinzendorf: Sehen Sie, als ich damals in Paris war, besuchte ich natürlich den Königshof. Ich war beeindruckt von Versailles. Liese Lotte von der Pfalz, die Mutter des Regenten, lud mich sogar ein und wir führten sehr gute Gespräche über den Glauben. Bei Hofe dachte jeder, ich sei ein Pietist, weil ich es ablehnte um Geld zu spielen oder Damenbekanntschaften einzugehen (lacht). Aber die Pietisten hingegen wollten nichts mit mir zu tun haben, weil ich tanzen, reiten und fechten konnte und zudem auch noch mit einem katholischen Kardinal befreundet war.
Hoffmann. Offensichtlich passten Sie damals schon in keinen Rahmen.
Atmo
Erzähler: Am 22. Dezember 1722 durcheilt eine Reisekutsche das winterliche Sachsen. Die Reisegesellschaft, die aus dem Grafen und der Gräfin Zinzendorf sowie einem Freund des Grafen aus Studentenzeiten, Friedrich von Watteville besteht, hat sich bequem in warme Decken gehüllt. Der Graf sitzt neben seiner jungen Frau Erdmuthe, die er erst im September geheiratet hat. Watteville hat ihnen gegenüber Platz genommen. Dankbar schweifen die Gedanken des 22-jährigen Grafen zurück. Wie wunderbar Gott doch alles geführt hat. Nach zwei gescheiterten Versuchen der Brautwerbung hat Ludwig schließlich die Komtess Erdmuthe Dorothea von Reuß kennengelernt. Allerdings geschah das unter etwas merkwürdigen Umständen. Ausgerechnet als er um die Hand der Gräfin Theodore von Castell anhalten wollte, in die er sich bei einem Besuch auf dem Schloss seiner Tante verliebt hatte, geschah es. Er hatte ja nicht ahnen können, dass die Gräfin Castell bereits vergeben war. Auf dem Weg zu ihr ereignete sich ein Unfall. Die Kutsche, die bis dahin gemächlich durch die regennasse Februarnacht geschaukelt war, blieb plötzlich mit einem Ruck stehen, kippte zur Seite und riss ihn und seine Mitreisenden zu Boden. Polternd fielen die Koffer vom Dach ins Wasser. Ludwig, der sich auf einmal in einem Knäuel von zu Tode erschrockenen Menschen und Gepäckstücken am Boden wiederfand, kletterte mühsam aus der Kutsche und watete durchs eiskalte Wasser ans Ufer. Was war passiert? Der Fluss Elster führte Hochwasser und war über die Ufer getreten. Der Wagen war auf dem aufgeweichten Weg abgerutscht und mit gebrochener Achse stecken geblieben. War es ein Zufall, dass sie in der Nähe von Ebersdorf gestrandet waren, wo sich die Residenz der Familie von Reuß befand? Für Ludwig keine unbekannte Familie. Während seines Paris-Aufenthalts hatte er einen der Söhne des Hauses Reuß, Heinrich, kennengelernt. Schnell waren die beiden jungen Männer Freunde geworden. Kein Wunder, dass Ludwig bei der Familie Reuß herzlich aufgenommen wurde, wo er dann die Tochter des Hauses, Gräfin Erdmuthe von Reuß, kennenlernte. Als sich die Sache mit der Komtess Castell dann zerschlug, erinnerte sich Ludwig wieder an Erdmuthe. Schließlich warb er um die fromme Adelige, nicht ohne ihr deutlich zu machen, dass er sie zwar liebte, dass er den Herrn Jesus Christus jedoch noch viel mehr liebte. Erdmuthe nahm das zum Glück recht positiv auf, und so waren sie eine „Streiterehe“ eingegangen. Das bedeutet, dass der Kampf und der Einsatz für Jesus immer die erste Rolle in ihrer Ehe spielen sollten.
Nach ihrer Hochzeit zog das junge Paar nach Dresden, wo der Graf schweren Herzens eine Anstellung als Hof- und Justizrat am königlichen Hof angenommen hatte. Eine Aufgabe, die ihm aber keine besondere Freude bereitete. Wie gut, dass es da noch den Bibelkreis gab, den er ins Leben gerufen hatte.
Atmo
Erzähler: Langsam bricht die Dämmerung herein. Noch hat es nicht geschneit, aber der Reif hat die Äste der Bäume mit einer schneeweißen Schicht überzogen. Bald werden sie in Hennersdorf bei seiner Großmutter ankommen. Ludwig freut sich auf dieses erste Weihnachtsfest, das sie als junge Familie auf seinem neu erworbenen Gut feiern wollen, obwohl das Herrenhaus dort immer noch einer Baustelle gleicht. Aber für ihn ist nur das Eine wichtig: endlich selbstständig zu sein, nicht mehr diese ständigen Bevormundungen seiner Familie über sich ergehen lassen zu müssen, endlich über eigenen Boden und Untertanen zu verfügen. Im Mai war es dann so weit. Er konnte von seiner Großmutter das Rittergut Bertelsdorf kaufen. Das allerdings war ziemlich heruntergekommen. Dazu wirft die kleine Land- und Forstwirtschaft kaum etwas ab. Zum Glück hat er mit dem frommen Schweizer Hausvogt Heitz einen sehr guten Verwalter einstellen können. Aber auch für die geistliche Betreuung seiner Untertanen hat er gesorgt, als er mit dem lutherischen Pfarrer Johann Andreas Rothe einen Theologen berief, der außerdem ein begnadeter Prediger ist.
Während die Kutsche durch die stille Winterlandschaft schaukelt, gehen die Gedanken Ludwigs gehen noch einmal um einige Monate zurück. Eines Tages war in seinem Bibelkreis in Dresden ein junger Zimmermann aus Mähren aufgetaucht. Er hatte sich als Christian David vorgestellt und den Grafen gefragt, ob er bereit wäre, Glaubensflüchtlinge aus Böhmen und Mähren aufzunehmen oder sie sogar auf seinem Gebiet anzusiedeln. Dieser junge, ernste Zimmermann hatte ihn damals sehr beeindruckt. Er stammte aus einem mährischen Dorf, war katholisch erzogen worden, hatte aber durch das Lesen der Bibel zum lebendigen Glauben gefunden. Christian David hatte es sich zur Aufgabe gemacht, seinen evangelischen Brüdern und Schwestern zu helfen, die in Tschechien wegen ihres Glaubens verfolgt wurden. Meist waren das Mitglieder der alten mährischen Brüderkirche, einer Gemeinschaft, die durch den Reformator Jan Hus entstanden war. Der mutige Glaubenskämpfer wurde wegen seiner evangelischen Überzeugung 1416 als Ketzer verurteilt und dann auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Als Böhmen im Jahre 1629 gewaltsam rekatholisiert wurde, musste die „mährische Brüderkirche“ in den Untergrund oder ins Exil gehen.
Zinzendorf hatte sich damals gegenüber der Idee Christian Davids, den mährischen Flüchtlingen auf seinem Gut eine neue Heimat zu geben, positiv geäußert. Aber dass es so schnell Wirklichkeit werden würde, damit hatte er nicht gerechnet. Denn schon kurze Zeit später brachte der junge Zimmermann tatsächlich vier mährische Familien über die Grenze nach Bertelsdorf. Aber was sollte dort mit ihnen geschehen? Da der Graf zu der Zeit in Dresden residierte, kümmerte sich sein Gutsverwalter kurzerhand darum. Er sprach mit der Vorbesitzerin des Guts, der Landvögtin in Hennersdorf, informierte seinen Herrn nur kurz und wies den Siedlern dann ein Gebiet am Hutberg, etwa zwei Kilometer vom Dorf entfernt, zu. Auch den Namen für die neue Siedlung hatte der Verwalter schon parat: „Herrnhut“, denn hier könnten sie eine Stadt bauen, die unter der Hut des Herrn stehe.
Immer tiefer bricht die Dämmerung herein. Lange hat die kleine Reisegesellschaft, in ihre Decken eingehüllt, still dagesessen und nach draußen gestarrt. Der Nebel hat sich am späten Nachmittag gelichtet und die Sonne die sanfte Hügellandschaft der Oberlausitz in ein fast märchenhaftes Licht getaucht. Ludwig, der immer noch über die Flüchtlinge aus Mähren nachdenkt, unterbricht sein Schweigen schließlich und richtet sich an seinen Freund Watteville: „Was meinst du, Friedrich, ob wir Schwierigkeiten bekommen wegen der mährischen Flüchtlinge?“ Watteville wiegt den Kopf: „Ausgeschlossen ist es nicht. August dem Starken ist nicht zu trauen, seit er katholisch geworden ist, nur um den polnischen Thron besteigen zu können.“ „Aber er hat uns Evangelischen hier in Kursachsen doch alle öffentlichen Rechte gelassen“, wendet Ludwig ein. „Trotzdem hat er sich damit von den Habsburgern abhängig gemacht. Du weißt ja, wie nahe deine Herrschaft an der Grenze liegt.“ „Ja, ich weiß“, erwidert Ludwig. „Ich dachte ja auch anfangs daran, für die Leute etwas im weiter entfernten Vogtland zu finden, aber Heitz hat mir die Entscheidung ja schon abgenommen.“ „Ein ziemlich selbstständiger Mann, dein Verwalter.“ Watteville schmunzelt. „Ludwig hat so viele wunderbare Gedanken, er sprüht geradezu vor Einfällen und Ideen“, mischt sich Erdmuthe ein, „aber was die Finanzen und die Verwaltung angeht ... ich weiß nicht. Er lässt seinem Verwalter viel zu sehr freie Hand.“ „Heitz ist ein sehr zuverlässiger und frommer Mann“, wehrt sich der Graf, „und da oben an der Landstraße zwischen Löbau und Zittau zu siedeln hat für Leute, die ein Gewerbe betreiben wollen, wirklich große Vorteile. Da hat Heitz schon recht. Trotzdem mache ich mir etwas Sorgen.“ „Im Moment ist die Lage ja ruhig.“ Watteville schaut an Ludwig vorbei nach draußen. „Aber sollte Wien verlangen, die Grenzen für Glaubensflüchtlinge zu schließen, müssten alle mährischen Flüchtlinge auf habsburgisches Gebiet zurückgebracht werden. Was das bedeutet, kannst du dir denken.“ „Hoffen wir, dass es so weit nicht kommt. Ich habe von Glaubensflüchtlingen gehört, die deportiert und zur Zwangsarbeit verpflichtet wurden, und nicht wenige sind in Ketten gelegt worden.“ „Müssen wir nicht gleich da sein?“ Erdmuthe unterbricht das unerfreuliche Thema und schmiegt sich an ihren Mann. „Ja, meine Liebe, wir müssten eigentlich gleich da sein. Aber was ist das? Schaut mal! Da ist ja ein Licht im Wald!“ „Vielleicht ein Haus der Flüchtlinge aus Mähren?“, mutmaßt Watteville. „Da könntest du recht haben. Denn da hinten liegt ja der Hutberg.“ Jetzt ist Ludwig hellwach. „Kommt, lasst uns mal nachsehen!“ Dann stoppt der Wagen und kurze Zeit später klopft der Graf an die Tür des Holzhauses.
Atmo
Die einfachen Leute erschrecken ziemlich, als sie hören, dass sie hier den Herrn von Bertelsdorf vor sich haben, bitten die Reisenden aber sehr ehrerbietig und gastfreundlich ins Haus. Schnell werden den hohen Gästen die wärmsten Plätze am Ofen angeboten und man kommt ins Gespräch. Die neuen Hausbewohner beginnen zu erzählen. Sie berichten von ihrer alten mährischen Brüderkirche und von den Verfolgungen. Sie schildern die heimlichen Treffen der Gläubigen in den Wäldern. Sie reden von den Schlägen, der Unterdrückung und dem unvorstellbaren Leid, das sie und ihre Brüder haben erdulden müssen und das nun dank des Grafen von Zinzendorf endlich ein Ende gefunden habe. Die Schilderungen der neuen Hausbewohner berühren Zinzendorf und seine Mitreisenden derart, dass der Graf am Ende mit allen auf dem Holzboden kniet und voller Mitgefühl für die neuen Bewohner seines Gutes betet. Als die Reisenden dann endlich aufbrechen, herrscht draußen bereits dunkle Nacht. Bittere Kälte schlägt ihnen entgegen, als sie sich durch die Dunkelheit zum Kutschwagen tasten. Im Herzen Zinzendorfs aber brennt ein Feuer, das nie mehr verlöschen wird. Es ist das Feuer der Begeisterung für seine neue Siedlung Herrnhut. Und es ist das Feuer der Liebe Gottes für die Brüder und Schwestern, die hier zu einer Gemeinschaft heranwachsen werden, deren Auswirkungen einmal für Millionen zum Segen werden sollen.
Musik
Hoffmann: Wie ging es denn damals in Herrnhut weiter?
Zinzendorf: Es kamen immer mehr Menschen, die in Herrnhut siedeln wollten. 1727 hatte der Ort schon 300 Einwohner, darunter waren allein 150 Mähren, die fast alle aus der Tradition der alten Brüderkirche, der „Brüder-Unität“, stammten.
Hoffmann: Aber nicht nur Mähren suchten in Herrnhut Zuflucht?
Zinzendorf: Natürlich zog dieser Ort der Glaubensfreiheit auch andere an. Es kamen Christen aus allen möglichen theologischen Richtungen, was später allerdings zu schwerwiegenden Auseinandersetzungen führte. Dazu war am Anfang das Geld auch immer knapp. Deshalb erwarteten wir von den neuen Siedlern später auch, dass sie die Fähigkeit hatten, sich durch ihr Handwerk selber ernähren zu können.
Hoffmann: Von einer angemessenen gräflichen Hofhaltung konnte also nicht die Rede sein.
Zinzendorf: Davon waren wir weit entfernt. Meine Stellung am Hofe wurde ja nicht mal vergütet. Im Gegenteil, sie verursachte nur Kosten. Denken Sie nur an die Wohnung, die wir in Dresden unterhalten mussten. Auf meinem Gut hatten wir am Anfang nicht einmal ein eigenes Gespann und der Ertrag der Felder war kaum erwähnenswert. Erst als mein Onkel auf Oberbertelsdorf verzichtete, konnten wir genügend Land dazukaufen, um einigermaßen leben zu können. Hätte ich mit meiner Frau nicht eine so vortreffliche Wirtschafterin gehabt, wäre das bestimmt nicht gut gegangen. Auch später, als ich ja oft auf Reisen war, hat sich meine Frau mit großer Umsicht um die Finanzen und die Verwaltung der Güter gekümmert.
Hoffmann: Erzählen Sie doch einmal, wie ein Sonntag damals in Herrnhut verlief?
Zinzendorf: Einfach wunderbar. Die Versammlungen dauerten oft den ganzen Tag an. Als erstes gingen wir in die Kirche, die übrigens bald zu klein wurde und erweitert werden musste. Ich hatte ja den lutherischen Pfarrer Johann Andreas Rothe berufen, der ein außerordentlich begnadeter Prediger war. Nach dem Gottesdienst gingen die mährischen Christen aber noch nicht nach Hause. Dann fand die Stunde für die Kinder statt, bevor wir uns noch einmal in der Kirche zu einer Aussprache über die Predigt versammelten. Da konnte dann jeder, der wollte, noch einmal seine Gedanken äußern. Danach folgte dann die Singstunde. Da war ich dann natürlich in meinem Element. Es wurde ein Lied nach dem anderen gesungen. Oft wurde auch improvisiert. Während das erste Lied ausklang, gab ich schon die Melodie für das nächste an und sagte den Leuten eine Strophe vor, die sie dann einfach nachsangen.
Hoffmann: Sie haben das Lied in diesem Moment gedichtet?
Zinzendorf: Oft sind mir die Texte bereits bei der Predigt eingefallen (lacht). Manchmal habe ich während der ganzen Predigt Lieder gemacht. Mitunter kamen mir die Strophen auch während des Singens. Und so sangen wir manchmal Lieder, die vorher noch über niemandes Lippen gekommen waren. Aber natürlich gab es nicht nur diese improvisierten Lieder. Ich hatte ja auch ein eigenes Gesangbuch herausgegeben.
Hoffmann: Was die Kirchenleitung in Dresden aber scharf verurteilte ...
Zinzendorf: Sie verboten mir eine zweite Auflage zu drucken, wegen angeblich gefährlicher „Seelenmystik“ , dabei enthielt das Gesangbuch überwiegend die alten lutherischen Kirchenlieder, ich hatte nur wenige neue hinzugefügt. Ich wollte aber trotzdem drucken und habe dann kurzerhand die Druckerei auf mein Herrschaftsgebiet verlegen lassen.
Hoffmann: Wir sprachen ja über die Sonntage in Bertelsdorf. War der Gottesdienst denn nach der Singstunde zu Ende?
Zinzendorf: Wo denken Sie hin. Danach ging es dann im gräflichen Haus weiter, wo ich die Frühpredigt noch einmal mit meinen eigenen Worten wiederholte und natürlich auch andere zu Wort kommen ließ.
Hoffmann: (lacht) Das war ja ein ausgedehntes Programm.
Zinzendorf: Sie glauben gar nicht, wie schnell dabei die Zeit vergeht. Oft gingen die Letzten erst um Mitternacht nach Hause.
Hoffmann: Trotz dieses geistlichen Aufbruchs kam es aber nach einiger Zeit zu ernsthaften Problemen.
Zinzendorf: Die Kirchenleitung in Dresden beäugte schon seit geraumer Zeit sehr kritisch, was da auf meinem Herrschaftsgebiet geschah. Das sah alles sah verdächtig nach Separatismus aus. Entwickelte sich da vielleicht eine gefährliche Sekte? Auch die kursächsische Regierung verfolgte die Ereignisse in Herrnhut mit Argusaugen, weil immer mehr Flüchtlinge aus dem nahen Mähren kamen. Aber bald musste ich feststellen, dass auch in Herrnhut nicht die idyllische Gemeinschaft herrschte, wie ich sie mir erträumt hatte. Es gab zunehmend theologische Auseinandersetzungen und Streit. Das Projekt Herrnhut drohte zu scheitern. Diese schwierige Situation zwang mich dazu, meine Stellung bei Hofe aufzugeben, um mich ganz der Verwaltung meines Gebiets und um Herrnhut kümmern zu können.
Hoffmann: Sie wollten ja eigentlich keine eigenständige Gemeinde gründen. Es ging ihnen – wenn ich das richtig verstanden habe – lediglich um die Verwirklichung einer geistlichen Gemeinschaft für Menschen, die auf der Suche nach einem Ort waren, wo sie ihren Glauben leben und praktizieren konnten.
Zinzendorf: Mit der beginnenden Aufklärung war ja die Selbstverständlichkeit des Glaubens ins Wanken geraten. Dem hatte die organisierte Kirche nicht viel entgegenzusetzen, zumal sie ja in weiten Teilen zur toten Orthodoxie erstarrt war. Dieser Gefahr wollte ich mich mit der Gründung quasi überkonfessioneller Gemeinschaften entgegenstellen.
Hoffmann: Das Projekt Herrnhut wäre aber damals fast gescheitert.
Zinzendorf: Ich war ja als Grundherr verantwortlich für jeden Einzelnen meiner Untertanen, aber auch für den öffentlichen Frieden. Das war die weltliche Seite. Aber es gab auch eine spirituelle Seite. Beides mussten irgendwie zusammengefasst werden, zumal der furchtbare Streit sich an theologischen Fragen entzündete. Ich begann zunächst mit der politischen Ordnung. Als Jurist war das für mich noch am leichtesten. Ich stellte eine Liste mit 41 Punkten auf, die die Rechte und Pflichten der neuen Einwohner Herrnhuts festlegen sollten.
Hoffmann: Können Sie einige nennen?
Zinzendorf: Ein wichtiger Punkt war, dass es keine Leibeigenschaft mehr geben durfte. In Herrnhut sollte jeder frei sein. Viele praktische Dinge wurden geregelt, wie die Pflicht zum Sauberhalten der Straßen und Plätze, freiwilliger Wachdienst, friedliches Zusammenleben, Verbot von Wucher, Marktschreiern, Taschen- und Glücksspielern, Verpflichtung für Witwen und Waisen zu sorgen. Übrigens musste auch niemand seine Konfession verlassen, wer katholisch war, konnte es bleiben ...
Hoffmann: ... also Toleranz als oberstes Gebot?
Zinzendorf: Wenn Sie das so nennen wollen. Aber es gab noch eine zweite, brüderliche Ordnung, die das Zusammenleben als Christen regeln sollte. Die war allerdings schon viel schwieriger durchzusetzen, weil es da viel Streit über theologische Vorstellungen gab ...
Hoffmann: Sie haben es aber trotzdem geschafft die Menschen wieder zusammenzuführen.
Zinzendorf: Ich bin sicher, dass es Christus selber war, der durch seinen Geist die Menschen einte. Trotzdem war es sehr, sehr schwer. Monatelang machte ich Hausbesuche, sprach mit den Leuten, hörte mir oft stundenlang geduldig ihre Probleme und Vorbehalte an, las in kleinen Gruppen mit ihnen zusammen die Bibel und betete mit ihnen. Und dann ging ich wieder von Haus zu Haus, besuchte jeden Einzelnen und versuchte zu vermitteln. Irgendwann merkte ich, wie sich das Blatt wendete. Inzwischen hatte Pfarrer Rothe damit begonnen, an die Gemeindmitglieder Aufgaben zu verteilen, um die Menschen zur Mitarbeit heranzuziehen. Am 12. Mai 1727 war es dann so weit. Ich legte den Herrnhutern die von mir erarbeiteten Statuten vor und erklärte sie den Leuten in einer dreistündigen Rede. Dann lud ich die versammelte Gemeinde ein, einer nach dem anderen nach vorne zu kommen und mir die Hand zu reichen, wenn sie bereit wären sich an die Prinzipien zu halten. Das Wunder geschah. Ich werde den bewegenden Moment, als alle langsam aufstanden und einer nach dem anderen zu mir kam, nie vergessen. Viele hatten Tränen in den Augen, als sie mir die Hand reichten.
Hoffmann: Als die eigentliche Geburtsstunde der Herrnhuter Brüdergemeine wurde aber später der 13. August des Jahres 1727 angesehen. Könnten Sie noch etwas über dieses Ereignis sagen?
Zinzendorf: Es war mit der Annahme der Statuten ja noch nicht wirklich zur Versöhnung der zerstrittenen Parteien gekommen. Wie ein dunkler Schatten lagen die Auswirkungen des Streits immer noch über uns. Inzwischen hatten wir in Herrnhut den Betsaal gebaut, in dem man sich neben dem Besuch des Gottesdienstes in Bertelsdorf zu den sonntäglichen Predigtbesprechungen am Nachmittag versammelte. An einem Augustsonntag erschien unerwartet Pfarrer Rothe im Herrnhuter Saal. Er hatte sich längere Zeit wegen der Spannungen von diesem Versammlungsort ferngehalten. Sofort zeigte er sich derart beeindruckt von der Atmosphäre der Veränderung, die er dort spürte, dass er vor Dankbarkeit auf die Knie ging. Bis Mitternacht blieb die Gemeinde betend und singend zusammen, dann lud Rothe alle zur gemeinsamen Abendmahlsfeier in seine Kirche nach Bertelsdorf ein. Am Mittwochmorgen traf man sich im Herrnhuter Saal, um gemeinsam zur Kirche nach Bertelsdorf zu gehen. Schon auf dem Weg dorthin war vielen auf einmal bewusst, wie schuldig sie aneinander geworden waren und welche negativen Auswirkungen der Streit hinterlassen hatte. Im Gottesdienst legte ich dann im Namen der ganzen Gemeinde ein Bekenntnis der gemeinsamen Schuld ab und dann feierten wir mit großer Ergriffenheit das Abendmahl.
Nach dem Gottesdienst spielten sich ergreifende Szenen vor der Kirche ab. Die Menschen baten einander um Vergebung, fielen sich gegenseitig um den Hals und versprachen, sich in Zukunft gegenseitig zu lieben und als Kinder Gottes zu achten und zu ehren. Auf dem Weg nach Herrnhut gab es kein anderes Gesprächsthema mehr als diesen denkwürdigen Gottesdienst. In der Siedlung angekommen, bildeten die Menschen Gruppen, die noch lange fröhlich zusammen waren und sangen, beteten und redeten. Da die Mittagszeit schon lange vorbei war, ließ ich aus meiner Küche etwas zu essen in die Gruppen bringen. Damit war das erste „Liebesmahl“ geboren, das die Brüdergemeine später immer wieder miteinander gefeiert hat.
Hoffmann: Herrnhut erlebte in der Folgezeit ja eine ungeheure Blüte. Nicht nur das Handwerk und der Handel blühten – es gab ja viele begabte und fleißige Handwerker –, sondern auch das geistliche Leben nahm einen enormen Aufschwung. Sicher auch eine Auswirkung Ihrer revolutionären Ansichten darüber, wie so eine religiöse Gemeinschaft – die ja zugleich auch ein politisches Gemeinwesen war – funktionieren sollte.
Zinzendorf: Die Form dieses Gemeinwesens gestaltete sich von innen heraus. Von der lebendigen Glaubensbeziehung des Einzelnen zu Jesus und der Liebe zu ihm. Wichtig war mir, dass jedes Mitglied von Herrnhut eine Aufgabe hatte.
Hoffmann: Welche Aufgaben gab es denn?
Zinzendorf: Es gab Älteste, die den Pfarrer bei der Seelsorge unterstützten. Dann gab es Lehrer, Ermahner, Krankenpfleger und Armenpfleger. Jede Aufgabe war klar definiert. Die Krankenpfleger sollten z. B. täglich die Kranken der Gemeinde besuchen, ihnen Medikamente mitbringen, sie auch waschen und mit ihnen beten. Es bildeten sich Wohn- und Lebensgemeinschaften heraus. Die kleinste Gruppe waren die sogenannten „Banden“. Dazu gehörten sechs bis acht Leute, die sich nach Geschlechtern getrennt jede Woche trafen. Hier konnte man ganz offen über alles reden, auch über seine persönlichen Sorgen und Probleme, und man konnte sicher sein, dass nichts nach draußen getragen wurde.
Hoffmann: Also so eine Art von Gruppenseelsorge?
Zinzendorf: Das könnte man so sehen. Damit das Gemeinwesen aber nicht auseinanderdriftete, hatten die Banden Leiter, die sich wiederum regelmäßig mit anderen Leitern trafen. Daneben entstanden die sogenannten „Chöre“, die zum Teil richtige Lebensgemeinschaften waren. Deren erste waren die ledigen Brüder, die in ein Haus zogen und in einer Art Wohn- und Arbeitsgemeinschaft miteinander lebten und arbeiteten. In ihrer freien Zeit am Abend studierten die Männer dann oft Sprachen, Medizin und Geografie. Später gründeten die jungen Schwestern eine solche Wohngemeinschaft, wobei sie mit Nähen, Stricken, Wolle- und Flachsspinnen sogar ihren Lebensunterhalt selbst verdienten. Ihre Leiterin war die erst 14-jährige Anna Nitschmann, die nur eine einfache Bauerntochter war, damals aber schon ein besonders reifes Verhalten an den Tag legte. Sie wurde dann später, wie sie sicher wissen, eine meiner besten und fähigsten Mitarbeiterinnen. Später gab es dann Chöre für alle möglichen Gruppen: für Witwen und Witwer, Jungen und Mädchen.
Hoffmann: Bei den Leitungsaufgaben in Herrnhut hatten die Frauen ja die gleichen Rechte wie die Männer, eine für das 18. Jahrhundert erstaunliche Praxis.
Zinzendorf: Das war mir vor allem für die Seelsorge wichtig. Frauen haben doch zu Frauen einen viel besseren Zugang. Es gab ja auch die Leiterinnen für die Banden, und die Leiterinnen für die weiblichen Chöre mussten natürlich auch Frauen sein. Da war es unausweichlich, dass sie auch an der Leitung der gesamten Gemeine beteiligt waren.
Hoffmann: In diese Zeit fällt auch die Erfindung der Losungen.
Zinzendorf: Es war am 3. Mai 1728. Wir hatten uns zu einer Singstunde versammelt, als mir die Idee kam, den Menschen eine einfache Liedstrophe als Losung für den nächsten Tag mitzugeben. Da sich die Brüdergemeine am Anfang fast jeden Abend versammelte, haben wir das dann jeden Abend so gehalten, eine Parole – das konnte ein Liedvers oder ein Bibelspruch sein – für den nächsten Tag ausgegeben. Wenn keine Versammlung stattfand, wurden die Losungen von Haus zu Haus getragen. Erst später gab es dann die schriftlich festgelegten Losungen für jeden Tag.
Musik
Erzähler: An einem Februartag im Jahre 1739 ist ein Segelschiff in der Nähe der Westindischen Inseln unterwegs. Mit an Bord befindet sich der deutsche Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Vier Wochen zuvor war er mit zwei Missionarsehepaaren auf St. Thomas angekommen. Die Missionare aus Herrnhut wollten auf der Karibikinsel arbeiten. Nun ist Zinzendorf wieder auf dem Weg zurück in die Heimat. Der Graf hat sich an Deck begeben und schaut fasziniert noch oben, wo Matrosen in schwindelnder Höhe affengleich auf den Masten und in der Takelage herumklettern. Sie holen einen Teil der Segel wieder ein, denn ein Sturm scheint aufzuziehen. Schwere Gewitterwolken haben den Himmel bereits verdunkelt. Blitze zucken am Horizont. Das dumpfe Donnergrollen in der Ferne kommt näher, wird immer lauter und schwillt bald zu ohrenbetäubendem Krachen an. Dann bricht unvermittelt der Sturm los. Zinzendorf, der an diesem warmen karibischen Tag dem Naturschauspiel zunächst fasziniert zugeschaut hat, kann sich schließlich kaum noch auf den Beinen halten. Das Schiff hebt und senkt sich, versinkt in tiefen Wellentälern, um kurz darauf in rasantem Tempo wieder aufzutauchen. Wolkenbruchartig setzt der Regen ein. Weiße Gischt spritzt bis in die höchsten Aufbauten des Schiffes hoch, wo immer noch einige der Seeleute an den Masten festgekrallt hängen. Mit aller Kraft kämpft der Graf gegen den starken Wind an und wankt auf dem schwankenden Boden in Richtung seiner Kajüte. Als er sie endlich erreicht hat, fühlt er sich sehr elend, was nicht nur eine Auswirkung des Sturms sondern auch der Malaria ist, an der er sich auf St. Thomas angesteckt hat.
Während der Sturm langsam wieder abebbt, denkt Zinzendorf noch einmal zurück, wie damals alles angefangen hatte auf dieser Karibikinsel. Was waren das erst für stürmische Zeiten gewesen! Vor sieben Jahren, am 21. August 1732, waren die ersten beiden Missionare Leonhard Dober und David Nitschmann nach St. Thomas aufgebrochen. Ohne Sprachkenntnisse, ohne große Ausrüstung, ohne besonderes Wissen. Das Wenige, das sie von dieser Karibikinsel wussten, hatten sie von Anton, einem bekehrten Sklaven, in Erfahrung gebracht. Zinzendorf kannte ihn seit einem Besuch am dänischen Königshof und hatte ihn nach Herrnhut eingeladen. Als der schwarze Christ dann in Herrnhut von seinen Brüdern und Schwestern erzählte, die auf St. Thomas von den weißen Pflanzern wie Haustiere gehalten werden, fühlten sie die beiden jungen Männer als Missionare nach St. Thomas gerufen. Sie wollten den armen Sklaven die Botschaft von der Liebe des Heilands bringen. Allerdings hatte ihnen Anton deutlich gemacht, dass man seine Landsleute nur dann für Jesus gewinnen könne, wenn man selber wie ein Sklave unter ihnen arbeiten würde. So hatten sich der Zimmermann Nitschmann und der Töpfer Dober auf den langen abenteuerlichen Weg in die Karibik gemacht. Sie wurden die ersten Missionare der Herrnhuter Brüdergemeine. Bald waren ihnen weitere gefolgt, die vor allem auf der Nachbarinsel St. Croix mit den Sklaven zusammen leben und arbeiten und ihnen von Jesus erzählten wollten. Allerdings waren zehn der insgesamt18 Missionare gleich in den ersten Monaten nach ihrer Ankunft krank geworden und gestorben. Die Nachricht vom Tod der Missionare hatte in Herrnhut nicht nur Trauer und tiefe Betroffenheit, sondern auch einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Zinzendorf und der Leitung der Brüdergemeine wurde vorgeworfen, sie hätten die Missionare in den Tod geschickt. Das lastete schwer auf ihm. So hatte er jetzt die Gelegenheit ergriffen, mit den beiden Missionarsehepaaren zusammen in die Karibik auszureisen. Damit wollte er deutlich machen, dass er die Gefahren einer solchen Reise auf sich zu nehmen und sich dem ungesunden Klima auszusetzen bereit war. Was sie bei ihrer Ankunft allerdings vorgefunden hatten, war ein Schock für sie gewesen. Man hatte die Herrnhuter Brüder ins Gefängnis geworfen. Das unerschrockene Auftreten der Brüdermissionare war ein Dorn im Auge der weißen Pflanzer, denn sie hatten offen über die Unterdrückung der schwarzen Sklaven gesprochen, von denen sich bereits 800 zur Brüdergemeine bekannten. Das bedrohte massiv die soziale Ordnung der dänischen Kolonie. Und so waren die Brüder unter fadenscheinigen Gründen im Gefängnis gelandet. Zum Glück hatte sie Zinzendorf dank seiner Autorität wieder freibekommen können.
Zinzendorf steht von seiner Koje auf und geht an Deck. Der Sturm hat sich gelegt. Ruhig gleitet das Schiff über den Ozean dahin. Die Gedanken des Grafen gehen zu seinem geliebten Herrnhut. Wie es dort wohl weitergehen wird? Vor drei Jahren ist er aus Sachsen ausgewiesen worden, weil er trotz des Verbots der Regierung weitere Flüchtlinge aus Böhmen und Mähren aufgenommen hatte. Schnell überschrieb er noch sein Gut samt Herrnhut seiner Frau, um so den Fortbestand der Brüdergemeine zu sichern. Aber Herrnhut als das Zentrum seines Lebens ist für ihn verloren. Dennoch: Hat er daneben nicht auch viel gewonnen? In der Wetterau in der Nähe von Frankfurt entsteht gerade eine weitere Herrnhuter Siedlung. Missionare aus Herrnhut sind nach Grönland aufgebrochen. In Holland ist nach einem Aufenthalt in Amsterdam eine Gemeine entstanden. In den baltischen Staaten wurde er mit offenen Armen empfangen. Er predigte in Riga und Reval und setzte sich in Gesprächen mit dem deutschen Adel für die unterdrückten Letten und Esten ein. Eine Begegnung mit dem preußischen König Wilhelm verlief so positiv, dass der Monarch ihm Unterstützung zusagte. In London konnte er bei einer Unterredung mit dem Erzbischof von Canterbury erreichen, dass die Verfassung der Brüderkirche anerkannt wurde. Damit hat Zinzendorf zweifelsohne viel für die Arbeit seiner Missionare in den ständig wachsenden englischen Kolonien erreicht. Je länger er über die letzten Jahre nachdenkt, desto deutlicher wird ihm, wie viel er trotz des Verlusts seiner Heimat dazugewonnen hat. So ist er sogar noch vom letzten lebenden Bischof der mährischen Brüderkirche zum „lutherischen Bischof der mährischen Brüder“ geweiht worden, um fortan als „Pilgerbischof“ seinem Heiland zu dienen und immer neue Stätten des Glaubens und Herrnhuter Gemeinen zu gründen.
Zinzendorf zieht einen Zettel aus seiner Rocktasche, auf dem ein kurzes Gedicht steht. Seine Frau Erdmuthe hat es vor der Abreise für ihn geschrieben und damit ihre Verbundenheit mit ihrem Mann zum Ausdruck gebracht:
Mein Herze gehet mit; wir sind in ihm verbunden.
Es bleibt zu allen Stunden die allgemeine Bitt
um Fortgang seines Segens daheim und unterwegs,
und dass der Heiland mit soll ziehn von Schritt zu Schritt.
Musik
Hoffmann: Ich bin auf meinem Weg durch die Gräberreihen des Herrnhuter Gottesackers noch einmal zu den Gräbern der Zinzendorfs zurückgekommen. Mein Blick fällt auf Erdmuthe von Zinzendorfs Grab. Unermüdlich, bescheiden und mit großem Gottvertrauen trug sie dazu bei, aus Herrnhut eine blühende Handwerkersiedlung zu machen. Mit ihrem gesunden Realitätssinn war sie eine unentbehrliche Ergänzung ihres Mannes. Daneben leistete sie als begabte Seelsorgerin Unschätzbares für die Gemeine. Mit ihrer Hilfe gelang es sogar, ihrem Mann ab 1747 wieder den legalen Aufenthalt in Sachsen zu ermöglichen. In den letzten Lebensjahren war sie gesundheitlich aber schon sehr angegriffen: Die Geburten ihrer zwölf Kinder, von denen nur drei Töchter die Mutter überlebten, forderten ihren Tribut. Vor allem der Tod des einzigen Sohnes Christian Renatus, nur vier Jahre vor ihrem eigenen Tod, hatte ihr schwer zugesetzt. Wie oft hatte sie ihren Mann während seiner langjährigen Verbannungszeit auf seinen Reisen begleitet, war sie zwischen Herrnhut und den ständig wechselnden Wohnsitzen hin und her gependelt und hatte dabei das Entstehen vieler neuer Stützpunkte und Gemeinen miterlebt. Am Schluss konnte sie am unruhigen Reiseleben ihres Mannes aber nicht mehr teilhaben. Ihre Kraft ging mit 56 Jahren im Jahre 1756 zu Ende. Ihr Mann entwarf später für ihren Grabstein die Inschrift: „... eine Fürstin Gottes unter uns und Säug-Amme der Brüder-Kirche.“
Zinzendorf traf der Tod seiner geliebten Frau tief. In den letzten Jahren hatten sie sich wegen seiner vielen Reisen auseinandergelebt. Nach ihrem Tod trug der Graf schwer daran. Die zweite Ehe, die Zinzendorf ein Jahr später mit seiner langjährigen Mitarbeiterin Anna Nitschmann einging, wollte keine rechte Erfüllung finden. Langsam zog sich Zinzendorf immer mehr zurück und legte schließlich die Leitung der weltweiten Brüdergemeine in andere Hände.
Ende April 1760 begann er noch damit, die Losungen für das Jahr 1761 zusammenzustellen. Im Mai erkrankte er jedoch. Davon sollte er sich nicht mehr erholen. Viele seiner Mitstreiter versammelten sich am 8. Mai am Bett des schon vom Tode Gezeichneten. Noch einmal wandte er sich an seinen Mitarbeiter David Nitschmann:
„Hättest du am Anfang gedacht, dass der Heiland so vieles tun wird in unseren Gemeinen, unter den Kindern Gottes hier und da und unter den Heiden, wie wir es jetzt erleben? Ich habe nur an ein paar Erstlingsfrüchte gedacht, aber nun geht es in die Tausende. Nitschmann, was für eine riesige Karawane bereits um das Lamm herum steht.“
Am Morgen des 9. Mai 1760 wusste Zinzendorf, dass er an diesem Tag „heimgehen“ würde. Seinem Schwiegersohn von Watteville, der an seinem Bett wachte, flüsterte er zu: „Mein guter Johannes, ich werde nun zum Heiland gehen; ich bin fertig, ich bin in den Willen meines Herrn ganz ergeben, und er ist mit mir zufrieden. Will er mich nicht länger hier brauchen, so bin ich ganz fertig, zu ihm zu gehen, denn mir ist nichts mehr im Wege. Und nun wollen wir noch ein bissel Konferenz halten.“
Konferenz hat Zinzendorf aber nicht mehr halten können. Am 16. Mai trugen 32 Prediger und Diakone der weltweiten Brüderkirche aus Holland, England, Irland, Nordamerika, Grönland und vielen deutschen Gemeinen den Sarg aus dem Kirchsaal in Herrnhut auf den Gottesacker, wo 2000 Mitglieder der Brüdergemeine sich versammelt hatten, um von ihrem Grafen Abschied zu nehmen. Seine zweite Frau Anna ist ihm nur fünf Tage später gefolgt.