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Janus geht nach Bethlehem
eine weihnachtliche Abenteurerzählung für Kinder
von Werner Hoffmann

1 Benjamin, der Hirte
Wie eine Herde Schafe trieb der Wind die Wolken am Himmel entlang. Am Horizont ballten sie sich zusammen, türmten sich zu gewaltigen Bergen auf und waren schließlich nur noch als undurchdringliche schwarze Wand zu erkennen, deren gezackter Rand sich orangefarben durch die Strahlen der untergehenden Sonne abzeichnete. Fahles Licht lag über der Hügellandschaft.
Der Wind hatte aufgefrischt und zerrte an Benjamins Tunika. Der junge Hirte war gerade damit beschäftigt, das Zelt einigermaßen regen- und sturmfest zu machen. Mit einem Stein schlug er die Pflöcke noch ein wenig tiefer in den von der Sonne ausgedörrten Boden. Die Zeltplane aus schwarzem, gewebtem Ziegenhaar flatterte wild an den Seilen. Staub wirbelte über die braunen, verbrannten Felder und setzte sich in die Augen des jungen Hirten, so dass er für einen Moment nichts sehen konnte. Seit drei Tagen war Benjamin nun schon hier, in der Nähe der kleinen Stadt Bethlehem. Weitere Herden seines Vaters Aron, der viele hundert Schafe und Ziegen und dazu noch weitläufige Oliven- und Weingärten besaß, wurden von anderen Hirten weiter oben in den Bergen gehütet, wo man jetzt im Spätsommer wenigstens noch ein wenig Grün zu finden hoffte.
Benjamin war siebzehn Jahre alt, hatte gelocktes dunkles Haar und war fast einen Kopf größer als die meisten anderen jungen Männer aus Bethlehem. Er hielt sich gerne hier draußen bei den Tieren auf, denn er liebte die Einsamkeit, das Leben in der freien Natur. Seine beiden älteren Brüder Levi und Yehuda waren da anders. Sie arbeiteten lieber zu Hause, kümmerten sich um das Wohnhaus und die Scheunen, die sie gerade für den Winter ausbesserten.
Die Schafe wurden unruhig, spürten das kommende Unwetter und drängten sich ängstlich im Gatter zusammen. Beruhigend redete Benjamin auf sie ein. Auch die beiden Hütehunde, die im Schatten eines Baumes gelegen und vor sich hin gedöst hatten, erhoben ihre Köpfe. Erste Blitze zuckten über den Himmel. Von fern war Donnergrollen zu hören.
Der Wind nahm an Stärke zu und wirbelte meterhohe Staubwolken auf, die sich wie kleine Wirbelstürme zum Himmel hochschraubten. Dann setzte schlagartig der Regen ein. Benjamin rannte noch einmal um das Gatter herum, um zu sehen, ob es auch überall geschlossen war. Noch dichter gedrängt standen jetzt die Schafe und Ziegen zusammen, als wollten sie sich gegenseitig schützen. Das Gewitter tobte nun direkt über ihnen. Grelle Blitze, denen ohrenbetäubend laute Donnerschläge krachend folgten, fuhren über den Himmel und ließen die Landschaft sekundenlang hell aufleuchten. Den jungen Hirten konnte normalerweise so schnell nichts aus der Bahn werfen, aber dieses Gewitter machte ihm doch Angst. Deshalb war er froh, endlich einigermaßen geschützt im Zelt zu sitzen. Zusammengekauert wartete er still auf das Ende des Unwetters. Gewaltige Wassermassen stürzten vom Himmel, gegen die das Sommerzelt aus Ziegenhaar allerdings nur mangelhaften Schutz bot. Bald war Benjamin völlig durchnässt. Aber das machte ihm nichts. Es war ein gutes Gefühl, nach dem langen heißen Sommer das erfrischende Nass auf dem Körper zu spüren. In den letzten Monaten hatte es kein einziges Mal geregnet. Einige Brunnen waren bereits ausgetrocknet, und es wurde immer schwieriger die Herden zu tränken. Doch so schnell, wie es gekommen war, zog das Gewitter auch schon weiter. Bald klarte es auf und die Sonne kam am Horizont wieder zum Vorschein.
Als Benjamin vor das Zelt trat, roch es wunderbar frisch. Der Regen hatte den Staub von den Blättern der Bäume gewaschen, die Luft war klar und rein. Benjamin schüttelte das Wasser von den Zeltdecken und ging zum Pferch, um zu sehen, ob keines der Tiere durch das Unwetter Schaden genommen hatte. Doch die Schafe schienen sich alle bester Gesundheit zu erfreuen. Auch ihnen schien der Regen nach diesem langen, heißen Sommer gut getan zu haben.
Benjamin freute sich auf den morgigen Tag, an dem er einen Teil der Herde nach Jerusalem bringen würde, wo die Tiere verkauft werden sollten. Dann würde ihn sein Bruder Levi hier ablösen. Er hatte die Tiere schon aussortiert und in einem gesonderten Pferch untergebracht. Sie waren allesamt noch jung und würden daher in Jerusalem gute Preise erzielen. Morgen sollte nämlich dort das Erntefest, das Laubhüttenfest, beginnen, das eine ganze Woche lang fröhlich gefeiert wurde. Dazu kamen hunderttausende Pilger in die Stadt. Ganz Jerusalem glich dann einem einzigen riesigen Zeltplatz, denn viele hausten dann unter Planen und in kleinen provisorischen Hütten, die aus Ästen und Palmblättern errichtet worden waren. Für dieses großartige Fest wurden nicht nur Opfertiere für den Tempel benötigt. Die vielen Menschen mussten mit Lebensmitteln, mit Fleisch, Gemüse und Brot, versorgt werden. Ein wahnsinniges Geschäft für die Händler, zu denen auch sein Onkel Shimon gehörte. Schon seit vielen Jahren kaufte der die Tiere seines Bruders Aron, um sie dann, natürlich mit Gewinn, an die Kaufleute in Jerusalem weiterzuveräußern . So war Shimon ziemlich reich geworden. Er besaß ein beeindruckendes Haus am Rand der Stadt, dazu weitläufige Ställe und Scheunen. Benjamin konnte es kaum erwarten, endlich einmal wieder ein paar Tage bei seinem Onkel verbringen zu dürfen. Außerdem freute er sich innig auf das fröhliche Fest.
Es war schon recht spät, als sich Benjamin zum Schlafen in sein Zelt legte. Doch er war viel zu aufgeregt, um einschlafen zu können. Irgendwann stand er wieder auf und ging nach draußen. Er setzte sich auf das Gatter und schaute in den Nachthimmel. Wie hell die Sterne nach dem Regen leuchteten. Aber dann riss ihn ein seltsames Geräusch aus seinen Träumen. Was war das? Angespannt lauschte er und ließ seine Augen über das Gelände schweifen. Hatte er ein wildes Tier gehört? Es gab Streifenhyänen, Schakale und manchmal sogar Leoparden hier in den Bergen. Einmal hatte sich auch ein Bär gezeigt. Da! Wieder das Geräusch! Plötzlich war Benjamin hellwach. Das mussten doch Wölfe sein! Jetzt konnte er es deutlich hören. Schauerlich schallte ihr Geheul durch die Nacht und wurde von den Bergen als Echo zurückgeworfen. Er sprang vom Gatter, lief ins Zelt, zog sich seine Sandalen an und nahm den Knüppel in die Hand, der nachts immer neben ihm lag. Vor Wölfen hatte er sich zwar noch nie gefürchtet, und es kam auch selten vor, dass sie einen Menschen angriffen. Aber junge, zarte Schafen und Ziegen stellten einen enormen Leckerbissen für sie dar.

2 Unerwarteter Besuch
Kurz darauf stand Benjamin mit klopfendem Herzen wieder draußen neben dem Schafpferch und lauschte. Am Horizont zeichnete sich dunkel die Silhouette der Berge ab. Die Bäume und Sträucher warfen durch das Mondlicht lange Schatten auf den Boden. Unruhig bewegten sich die Tiere im Pferch. Benjamin umfasste seinen Knüppel noch fester und lauschte angestrengt. Es war jedoch nichts mehr zu hören. Das bedeutete nichts Gutes. Die Wölfe hatten sich offensichtlich verständigt und würden sich möglicherweise nun leise anschleichen, um dann unvermittelt anzugreifen. Regungslos stand der Hirte da und starrte weiter in die Nacht. Eine unheimliche Stille lag über dem Land. Selbst die Schafe standen mit einem Mal regungslos da und gaben keinen Laut mehr von sich. Nur die Hunde umkreisten den Hirten unruhig und warteten auf seine Befehle. Da! Bewegte sich da nicht ein Schatten unter den Bäumen? Benjamin erschrak zu Tode. Auf einmal fühlte er Angst in sich aufsteigen. Bisher waren seine Brüder oder sein Vater immer dabei gewesen, wenn Wölfe bei der Herde aufgetaucht waren. Der Schatten bewegte sich jetzt auf ihn zu. „Hassan! Ruben! Fasst!“, befahl er und stürmte zusammen mit seinen Hunden knüppelschwingend und mit lautem Geschrei auf den Schatten zu. „Benjamin!“, schallte es ihm entgegen. „Ich bin es doch, Levi! Seit wann hetzt man die Hunde auf seinen Bruder!“ Wie angewurzelt blieb Benjamin stehen. Auch die Hunde hatten Levi erkannt und sprangen nun vor Freude bellend an ihm hoch. „Levi! Hast du mich aber erschreckt!“ Benjamin fiel ein Stein vom Herzen. „Wieso tauchst du hier mitten in der Nacht auf?“ „Vater hat sich Sorgen gemacht wegen des Unwetters. Er meinte, ich solle mal nach dir schauen.“ „Hast du die Wölfe gehört?“ Levi lachte: „Mit deinem gewaltigen Geschrei hast du sie sicher in die Flucht geschlagen, du mutiger Simson.“ „Mach dich nur lustig über mich!“ „Warum hast du kein Feuer angemacht?“ „Das Holz war zu nass. Ich hab´s einfach nicht anbekommen.“ „Das war leichtsinnig!“ „Ich weiß“, antwortete Benjamin kleinlaut, „ich bin froh, dass du gekommen bist.“ Dann umarmten sich die Brüder. Bald flackerte ein kleines, von Levi schließlich doch noch entfachtes Feuer vor dem Zelt, an dem die beiden es sich gemütlich machten.
An Schlaf jedoch war jetzt nicht mehr zu denken. „Köstlich!“, ließ sich Benjamin vernehmen, während er genüsslich an einem frischen, knusprigen Brotfladen herumkaute, von denen Levi einige mitgebracht hatte. Eine Zeitlang saßen die beiden schweigend da und starrten in das Feuer. Es tat Benjamin gut, neben seinem großen Bruder zu sitzen, der immer auch ein großes Vorbild für ihn gewesen war. Da unterbrach Levi das Schweigen: „Ich ... ich möchte dir etwas erzählen, aber du darfst mit niemandem darüber reden.“ „Was gibt es denn so Geheimnisvolles?“, lachte Benjamin spöttisch. So kannte er seinen Bruder gar nicht. „Versprich es mir!“ „Ja, natürlich, nun erzähl schon!“ „Ich ... ich war gestern bei einem geheimen Treffen der Zeloten.“ „Du warst ...?“ Benjamin konnte nicht glauben, was er da gehört hatte. „Wir müssen den Römern endlich einmal zeigen, dass sie in Israel nichts zu suchen haben. Es wird Zeit, dass wir uns von ihrem Joch befreien.“ „Aber die Zeloten wollen das mit Waffengewalt durchsetzen!“, erwiderte Benjamin entrüstet. „Du weißt doch auch, dass die Römer die Menschen erbarmungslos ausbeuten. Erst neulich haben sie einige Bauern in Galiläa von ihrem Grund und Boden vertrieben und zu Sklaven gemacht, weil die sich geweigert hatten, ihnen Steuern zu zahlen.“ „Aber das ist doch noch lange kein Grund, Gewalt anzuwenden.“ Benjamin erkannte seinen Bruder kaum wieder: „Dürfen wir denn Unrecht mit neuem Unrecht begegnen?“, fuhr er besorgt fort, „hast du denn vergessen, was uns Vater immer gesagt hat?“ „Ach, das Gerede vom kommenden Messias, der alles richten wird – ich kann es nicht mehr hören. Wir müssen die Dinge jetzt selber in die Hand nehmen. Wer weiß denn, wann der Retter Israels kommen wird und ob er überhaupt kommt?“ „Du zweifelst daran?“ Benjamin war entsetzt. „Weiß Vater von eurem heimlichen Treffen?“ „Nein, er weiß nichts davon. Und er würde es sicher auch nicht gutheißen.“ „Ich habe Angst um dich, Levi.“ Benjamin nahm ein Stück Holz und legte es ins Feuer. Die Flamme flackerte auf und ließ für einen Moment sein besorgtes Gesicht erkennen. „Bitte versprich mir, dass du dich an keinem Anschlag gegen die Römer beteiligen wirst.“ „Mach dir keine Sorgen, noch bin ich ja kein Zelot“, lachte Levi. „Komm, mein Bruder. Die Sonne geht bald auf. Wir sollten wenigsten noch ein paar Stunden schlafen.“ Levi erhob sich gähnend: „Es wird bestimmt ein aufregender Tag für dich werden.“ Bald lagen beide auf ihren Schaffellen. Aber Benjamin konnte lange nicht einschlafen. Erst im Morgengrauen fielen ihm die Augen zu.
Bei Tagesanbruch waren die beiden früh auf den Beinen. Bevor Benjamin mit Hassan, dem Hütehund, und den gut hundert ausgewählten Tieren nach Jerusalem aufbrechen würde, war noch einiges zu tun. Als die Vorbereitungen abgeschlossen waren, verabschiedeten sich die Brüder voneinander. „Den Weg kennst du ja.“ Levi klopfte seinem kleinen Bruder aufmunternd auf die Schulter. „Und lass dich nicht von den Römern einschüchtern, die patrouillieren jetzt vor dem Fest besonders stark.“ „Was sollen sie mir denn tun, ich hab ja nichts verbrochen. Du solltest dich da schon eher in Acht nehmen“, entgegnete Benjamin schmunzelnd. Dann setzte er sich an die Spitze seiner Herde und zog los. „Grüß Onkel Shimon von mir!“, rief ihm sein Bruder noch hinterher. „Mach ich!“ „Und pass auf dich auf!“, schallte es nochmals. Bald schon war Benjamin mit seiner Herde hinter der nächsten Bergkuppe verschwunden.
Es war ein heller, sonniger Morgen, aber die Luft roch noch immer nach Regen. Benjamin trieb die Tiere über die ausgedörrte Hügellandschaft, die mit Steinen und Felsblöcken übersät war. Ab und zu zeigte sich ein knorriger, rosa blühender Rosmarinstrauch, die einzigen Farbtupfer in dieser kargen Landschaft. Vergeblich versuchten die Ziegen noch Blätter aus einigen stacheligen Sträuchern zu rupfen, die von anderen Herden aber längst kahlgefressen waren. Nach einiger Zeit ging es auf mit niedrigen Steinmauern eingefassten Wegen weiter, hinter denen sich weitläufige Gärten mit Ölbäumen und Weinstöcken ausdehnten. Die Weinernte war gerade vorbei, aber die Oliven hingen noch satt und schwarz an den Bäumen. Das Schnarren der Zikaden war derart laut, dass es zuweilen sogar das Blöken der Herde übertönte.
Benjamin kam mit seiner Herde gut voran, was er allerdings auch seinem Hund zu verdanken hatte, der jedem seiner Befehle genau gehorchte und seine Arbeit mit großer Begeisterung erledigte. Unermüdlich drängte er Tiere, die zurückblieben, zu den anderen, zwickte besonders eigenwilligen Schafen in die Hinterbeine und umkreiste bellend die Herde. Es war eine Freude, diesem Hund bei seiner Arbeit zuzusehen.
Nach einigen Stunden bereits sah Benjamin die Silhouette Jerusalems vor sich auftauchen. Er blieb stehen und ließ das Bild auf sich wirken. Immer wieder war er begeistert von dieser unglaublich schönen Stadt, die schon König David tausend Jahre zuvor besungen hatte. Gewaltig erhob sich der Tempel, der nur von den gewaltigen Türmen der Burg Antonia überragt wurde. Jetzt hatte er es bald geschafft. Er trank ein paar Schlücke aus der Feldflasche, dann ging es weiter. Die Aussicht, bald bei seinem Onkel zu sein, ließ ihn die Tiere noch schneller vorantreiben. Endlich konnte Benjamin das Anwesen seines Onkels ausmachen, das am Rand des Ölbergs im Tal des Flusses Kidron lag, der zu dieser Jahreszeit aber längst kein Wasser mehr führte. Silbern glänzten unzählige Ölbäume an seinen Hängen. Über dem Tal ragte imposant die mächtige Stadtmauer auf. Längst war Benjamin mit seiner Herde nicht mehr allein unterwegs. Immer mehr Menschen bevölkerten jetzt die Straßen und Wege. Mit knarrenden Eselskarren und rappelnden Ochsengespannen, auf schwankenden Kamelen und kleinen, dürren Pferden, die jeden Moment unter der Last von Mensch und
Material zusammenzubrechen drohten, oder auch einfach zu Fuß strebten sie alle der Stadt zu. Gleich würde es auch Benjamin geschafft haben. Bestimmt war seine Tante schon dabei, ihm sein Lieblingsessen zuzubereiten: mit Rosmarin geröstete Lammkeule, dazu geröstete Mandelkerne mit frischem Fladenbrot, Ziegenbutter und Honig. Das Wasser lief ihm bei diesem Gedanken im Mund zusammen.
Plötzlich aber musste die Herde unversehens anhalten. Drei berittene Legionäre blockierten den Weg. Das hatte ihm so kurz vor dem Ziel gerade noch gefehlt. Hoffentlich machten die ihm keine Probleme. Einer von ihnen schien noch sehr jung zu sein. Die beiden anderen waren offenbar höhere Offiziere, von denen einer ziemlich lustig aussah. Er war klein und dick, hatte die Zügel losgelassen und seine Arme in die Hüften gestemmt, was ihm fast das Aussehen einer Karaffe gab. Sofort war der Beschützerinstinkt Hassans geweckt, der die berittenen Soldaten bellend umkreiste. Die Pferde scheuten, vor allem das Reittier des Dicken, das sich aufbäumte und von ihm kaum noch im Zaum zu halten war. Beinahe hätte das Pferd den Hund mit den Hufen getroffen. „Hassan, hierher!“, befahl Benjamin. Der Hund ließ von dem Dicken ab und stellte sich nun schützend vor seinen Herrn. Benjamin konnte hören, wie der nun etwas zu dem jungen Legionär sagte, das er allerdings nicht verstand, weil er kein Latein konnte. Feindselig blickten die beiden Offiziere auf Benjamin herab, während der junge Legionär vom Pferd stieg und sich dem Hirten näherte. „Still! Hassan!“, beruhigte Benjamin den knurrenden Hund. Dann stieß er einen Pfiff aus und Hassan kam wieder seiner Aufgabe nach, die Tiere, die sich von der Herde entfernt hatten, zurückzutreiben. Nun standen sich die beiden jungen Männer gegenüber. Ein kaum erwachsener Legionär mit Kettenhemd, Helm und Kurzschwert und ein fast um einen Kopf größerer Hirte, der lediglich einen Stab in seiner Hand hielt.
Benjamin war etwas mulmig zumute. Was wollten die Römer von ihm? Aber dieser junge Legionär blickte ihn eher bewundernd an. Und auch Benjamin empfand merkwürdigerweise keine Ablehnung, sondern sogar eine gewisse Sympathie für diesen jungen Römer. Die beiden anderen Legionäre hatten sich inzwischen ein wenig entfernt, weil der Dicke offenbar Angst vor Benjamins Hund hatte. Sie unterhielten sich, lachten und nahmen jetzt kaum noch Notiz von den anderen. „Wo kommst du her und wo willst du mit den Tieren hin?“, fragte der Soldat, wobei er sich um einen strengen Ton bemühte. „Ich komme aus Bethlehem und bringe die Tiere zu meinem Onkel.“ Die Stimme Benjamins klang freundlich, zeigte aber keinerlei Furcht. „Wer ist dieser Onkel?“ „Er heißt Shimon und wohnt dort drüben.“ Benjamin wies auf das Anwesen am Rand des Kidrontals. „Ach, der Viehhändler ist dein Onkel?“ „Kennst du ihn?“ Der Legionär lachte spöttisch: „Nenn mir einen, der ihn hier nicht kennt.“ Jetzt lächelte auch Benjamin. „Du sprichst sehr gut Aramäisch“, sagte er verwundert. „Ich hab’s in Rom von den Juden gelernt.“ „Oh, das ist ungewöhnlich.“ Benjamin war jetzt neugierig geworden. Noch nie war ihm ein Römer begegnet, der Sprache der Einheimischen so gut beherrschte. „Meine Eltern sind in Rom dem jüdischen Glauben beigetreten. Ich kann sogar ein wenig Hebräisch“, fuhr der Römer mit Stolz in der Stimme fort. „Ich weiß, dass viele Juden in Rom leben.“ Benjamin spürte, wie er seine Distanz gegenüber diesem Römer verlor. Die Vorbehalte, ja der Hass, den man ihm schon von Kindesbeinen an gegen die verhasste Besatzungsmacht eingeimpft hatte, schmolzen dahin wie im Sommer der Schnee an den Hängen des Hermon-Gebirges. Warum konnte er diesen jungen Legionär nicht hassen? „Und du? Glaubst du auch an Gott?“ „Ich, ich weiß nicht ...“ Die Augen des jungen Römers leuchteten für einen Moment kurz auf und Benjamin spürte, dass dieser Legionär vielleicht mehr für Gott empfand, als er sich selber eingestehen wollte. Doch dann näherten sich ihnen wieder die beiden Offiziere, wobei vor allem der Dicke wegen des Hundes nach wie vor einen Sicherheitsabstand für geboten hielt. Der junge Soldat rief nun etwas in seine Richtung, worauf der Dicke stumm nickte. „Alles in Ordnung!“, sagte der junge Römer nun wieder in seinem alten Befehlston, „du kannst jetzt passieren!“ Dann schwang er sich aufs Pferd und ritt mit den anderen durch das Kidrontal davon. Eine Weile stand Benjamin noch nachdenklich da. Hatte sich der junge Römer eben nach ihm umgeschaut? Er gab seinem Hund einen kurzen Befehl und strebte mit seiner Herde dem Anwesen seines Onkels zu, wo ihm von Weitem

3 Janus, der Legionär
Janus stand am Fenster seines kleinen Zimmers, das in einem der vier Türme der mächtigen Burg Antonia lag. Er war hier mit seiner Zenturie, die aus 80 Legionären bestand, untergebracht. Der junge Soldat ließ seinen Blick über die Stadt schweifen. Es war noch früh am Morgen, die beeindruckende Tempelanlage erstrahlte jetzt in goldenem Glanz. Er konnte hier von seinem Fenster aus genau auf den Vorhof des Tempels schauen, der trotz der frühen Morgenstunden schon voller Menschen war. Der letzte Tag eines der größten und schönsten Feste in Israel, des Laubhüttenfestes, war gerade angebrochen. Die ganze Woche über waren die Musik, die Chöre, die Rufe und der Jubel der Menschenmenge zu ihm heraufgeschallt. Sogar die Lesungen aus der Tora hatte Janus manchmal mithören können.
Vor ein paar Monaten erst war der junge Legionär aus seiner Heimatstadt Rom hierher nach Jerusalem versetzt worden. Der Zenturio hatte schnell gemerkt, dass mehr in dem Jungen steckte, und so war dieser in der Kohorte schnell aufgestiegen und schließlich sogar zum Diener des Zenturio geworden. Der Zenturio, der eine Kohorte von 500 Legionären befehligte, schätzte vor allem Janus’ Dienste als Dolmetscher, denn er selbst beherrschte die aramäische Sprache – eine Abwandlung des Hebräischen, die damals in Israel gesprochen wurde – nicht. Römische Legionäre sprachen in der Regel Latein. Viele konnten sich allerdings auch auf Griechisch verständigen, das damals überall im römischen Weltreich gesprochen wurde.
Viele dieser Legionäre entstammten sehr armen Verhältnissen und waren oft ungebildete, ungehobelte Klötze, die in einer harten Disziplin zu brutalen und willenlosen Kampfmaschinen ausgebildet wurden. Auch Janus hatte diesen erbarmungslosen Drill durchlaufen: weite Märsche, bei denen man täglich dreißig Kilometer und mehr zu Fuß zurücklegen musste. Und das mit voller mit Rüstung: mit Waffen, Kochgeschirr, Palisadenstangen und Proviant. War man dann endlich todmüde am Ziel angekommen, durfte man sich keinesfalls schlafen legen. Die elende Schufterei ging noch weiter. Ein Lager mit einem Graben und einem Wall aus Palisadenpfählen musste anlegt werden. Das dauerte oft bis in die Nacht hinein. Natürlich hatte Janus auch ein hartes Training im Laufen, Springen, Schwimmen und Reiten absolvieren müssen. Und sich daneben im Kampf, Mann gegen Mann, mit Helm, Kettenhemd und Schild, Kurzschwert und Dolch, geübt. Leider hatte er aber viel zu spät gemerkt, dass Kämpfen und Kriegführen eigentlich gar nicht seine Sache war. Und mehr als einmal hatte er es bereut, überhaupt Legionär geworden zu sein. Es war wohl das Abenteuer, die Aussicht, ferne Länder kennen zu lernen, was ihn gereizt hatte. Nach seiner Ausbildung war er dann weit im Süden bei der 10. Legion in Israel gelandet, wo er in der Burg Antonia einquartiert wurde, die sich direkt neben dem Tempel befand. Hier in einem Zimmer wohnen zu dürfen, das sich neben dem des Zenturio befand und von dem man eine grandiose Aussicht auf Jerusalem und den Tempel hatte, stellte schon ein besonderes Privileg für einen jungen römischen Legionär dar.
Immer noch stand Janus am Fenster und schaute fasziniert auf das bunte Treiben in den Straßen rund um die Oberstadt, auf die verwinkelten Gassen, die ein einziges Labyrinth aus Treppen und Bogengängen bildeten, auf die Höfe, die jetzt am frühen Morgen schon voller Menschen waren, durch die sich Bauern mit ihren Ochsenkarren und säckebeladenen Eseln hindurchzwängten. Die Schreie der Händler, die hinter ihren Marktständen lautstark ihre Waren feilboten, mischten sich mit der Musik, die auf dem Vorhof des Tempels erklang und trotz des herrschenden Stimmengewirrs zu ihm heraufdrang.
Janus war gespannt, an welcher Stelle der Stadt er an diesem Tag patrouillieren musste. Gestern hatte ihn der Zenturio in die unmittelbare Nähe des Goldenen Tores beordert, das direkt auf den Tempelberg führt und durch das während des Festes besonders viele Menschen strömten. In der Regel war Janus als Diener des Zenturios vom Wachdienst befreit. Aber bei großen Festen, wenn tausende Pilger aus dem großen römischen Reich in Jerusalem einfielen, wurde jeder Mann gebraucht, um die Macht des römischen Reiches nicht nur zu demonstrieren, sondern notfalls auch mit Gewalt zu verteidigen. Um Aufstände bereits im Keim zu ersticken, hatte die Besatzungsmacht in der ganzen Stadt, besonders aber in der Nähe des Tempels, hunderte von Legionären und fremden Söldnern postiert. Auch auf den Zinnen der Burg Antonia standen sie den ganzen Tag über in der glühenden Sonne und beobachteten argwöhnisch das Treiben der Pilger. In letzter Zeit war es immer wieder zu Aufständen gegen die verhassten Römer gekommen. Vor allem in Galiläa, im Norden Israels, griffen die Sikarier – eine extremistische Gruppe der Zeloten – immer wieder aus dem Hinterhalt römische Legionäre an und erbeuteten Waffen und militärische Ausrüstung, was die Besatzer dann wieder mit brutalen Vergeltungsschlägen bestraften. Ein Kreislauf der Gewalt und des Blutvergießens, der kein Ende nehmen wollte.
Janus trat zurück in seine Kammer, zog das Kettenhemd, das aus Leder und Metallschuppen bestand, über seine Tunika, setzte den schweren Helm auf und steckte sich Kurzschwert und Dolch an die Seite. Da ertönte bereits im Hof das Signal zum Sammeln. Sofort eilte der junge Legionär durch die Gänge der Burg nach draußen. Die Hitze hier war unbeschreiblich. Im Hof wurde Aufstellung genommen, und dann teilte der kleine dicke Zenturio, den alle wegen seiner rundlichen Formen und seiner Vorliebe für süßen Wein „Karaffe“ nannten, den Legionären im Befehlston mit, was sie an diesem Tag zu tun hatten. Janus wusste natürlich, dass „Karaffe“ anschließend den ganzen Tag im römischen Bad verbringen würde, wo er sich mit kühlen Aufgüssen von der Hitze und den Strapazen seines Dienstes erholen musste. Der junge Legionär sollte an diesem Tag einen Beobachtungsposten auf dem Vorhof des Tempels beziehen. Es dauerte nicht lange, und er hatte seinen Platz im Schatten einer der Säulenhallen eingenommen. Was für ein Glück, dass er nun aus unmittelbarer Nähe den Gottesdienst miterleben konnte. Keiner seiner Kameraden, und erst recht nicht der Zenturio, ahnten ja, dass er sich insgeheim für den Gott Israels interessierte.
Auf dem Platz herrschte ein unglaubliches Gedränge. Viele hielten sich in den Säulengängen auf, um vor der heißen Sonne geschützt zu sein. Händler, die Opfertiere verkauften, hatten dort ebenfalls ihre Stände errichtet. Janus konnte nun sehen, wie sich ein großes Orchester aus Trompeten und Flöten, Trommeln, Pauken, Schellen und Harfen formierte, vor dem ein gewaltiger Chor Aufstellung nahm. Und obwohl es noch früh war, herrschte bereits eine fröhliche, fast ausgelassene Stimmung auf dem fast einen halben Kilometer langen Tempelvorhof. Aufmerksam beobachtete Janus das Treiben. An diesem letzten Tag des Festes waren besonders viele Menschen zusammengekommen, und den Legionären war eingeschärft  worden, jede verdächtige Bewegung sofort zu melden. Die Gedanken des Legionärs schweiften zurück. Früher hatten sie in Rom in der Synagoge auch diese jüdischen Feste gefeiert. Immer noch sah Janus seinen Vater mit anderen Männern zusammen mit der Thorarolle fröhlich tanzen. Und auch er hatte sich von dieser Freude anstecken lassen. Gleich würden sie hier auf dem großen Platz vor dem Tempel zu den Klängen der Instrumente ebenfalls den Reigen tanzen.
3 Eine merkwürdige Begegnung
Während Janus seinen Gedanken nachhing und gegen das aufkommende Heimweh ankämpfte, tauchte in der Menschenmenge plötzlich ein junger Mann auf, dem er schon einmal begegnet war. Er war fast einen Kopf größer als die meisten anderen und hatte dichtes gelocktes Haar. War das nicht der Hirte, dem er vor einer Woche im Kidrontal begegnet war? Kein Zweifel, er war es wirklich. Janus hätte es nicht für möglich gehalten, ihn noch einmal zu sehen. In diesem Moment hatte ihn der Hirte auch gesehen. Für ihn schien das Zusammentreffen ebenso unerwartet zu kommen, denn er blieb überrascht stehen und blickte den Legionär verwundert an. Dann ging er auf ihn zu. „Shalom“, grüßte er, und zu seinem Erstaunen erwiderte der Legionär den hebräischen Gruß: „Shalom, Friede sei mit dir!“ „Viel los heute, was?“, stammelte der jüdische Hirte. „Mann, und heiß ist es ...“, der Legionär wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. „Blöd, dass du den Helm tragen musst bei dieser Hitze.“ Der Anflug von Spott des nur mit einem luftigen Rock bekleideten Hirten war nicht zu überhören: „Hab noch nie gehört, dass hier morgens schon irgendwelche Gegenstände vom Himmel fallen!“ Das war frech. Trotzdem verzog der Legionär sein Gesicht zu einem Grinsen: „Und das Panzerhemd hält die Wärme auch nicht wirklich vom Leib“, fuhr der Hirte lachend fort. „Auf jeden Fall bekommst du keine blauen Flecken, wenn dich bei diesem Gedränge jemand anrempelt.“ „Verstehe“, witzelte nun der Legionär, „die vielen Ellenbogen. – Ich bin Janus.“ „Und ich Benjamin!“ Lachend streckte er dem Römer die Hand hin. Janus entgegnete: „Benjamin, so, wie der jüngste Sohn von Jakob und Rahel hieß. Und der Stammvater des gleichnamigen Stammes der zwölf Stämme Israels.“ Benjamins Erstaunen über so viel Bibelkenntnis war echt: „Das hast du von den Juden in Rom auch gelernt?“ „Ich war oft mit meinen Eltern in der Synagoge.“ „Habt ihr da auch das Laubhüttenfest gefeiert?“ „Ja, haben wir. Aber es war kein Vergleich zu dem, was hier abgeht.“
In diesem Moment brandete unbeschreiblicher Jubel auf. Das Orchester begann zu spielen und Benjamin zeigte auf einige prächtig gekleidete Priester, die mit goldenen Kannen vorüberschritten. Sie hatten die prunkvollen Gefäße gerade am Teich Siloah, der etwas unterhalb des Tempels lag, mit Wasser gefüllt. „Wo laufen die damit hin?“ Janus schrie Benjamin ins Ohr. Denn bei diesem Lärm konnte man sich unmöglich normal unterhalten. „Sie gießen es im Tempel auf den Altar! Und beten dafür, dass es bald anfängt zu regnen.“ „Eine gute Idee, für kühlen Regen zu beten!“ Janus wischte sich wieder den Schweiß weg, schaute sehnsüchtig nach oben und verdrehte die Augen, so dass Benjamin lachen musste. Bei der ausgelassenen Stimmung, die nun auf dem Platz herrschte, schien nun niemand mehr auf den römischen Legionär und seinen neuen jüdischen Freund zu achten. Ebenso schien niemand zu bemerken, wie sich Janus seines Helms entledigte, was einem Legionär im Dienst natürlich streng verboten war. Und genauso verboten sah es auch aus, als Janus mit seinem Kettenhemd ein paar zaghafte Tanzschritte wagte. Jetzt lachte Benjamin, weil ein tanzender Legionär einfach ein unmögliches Bild abgab. Und dann lachten und tanzten sie beide mit vielen tausend anderen über den Platz, begleitet von Jubelschreien und schrillen Freudenjauchzern. „Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus dem Heilsbrunnen!“, sang dazu der Chor. „Vielleicht wird es heute passieren!“, brüllte Benjamin Janus ins Ohr. „Was wird passieren?“ „Dass das Wasser, das sie auf den Altar gießen, zu einem großen Strom wird, der das ganze Land überflutet; und jeder, der es trinkt oder darin badet, wird gesund werden.“ Jetzt erinnerte sich auch Janus an diese Prophezeiung des Propheten Hesekiel. „Und dann wird der Messias, der Retter der Welt, kommen, um sein Friedensreich aufzurichten“, fuhr der Römer begeistert fort. „Und ihr Römer habt hier nichts mehr zu sagen!“, lachte Benjamin.
Doch so weit war es noch nicht. Sosehr die Priester auch tanzten und beteten. Nicht einmal die kleinste Wolke zeigte sich am Himmel, und von einem Strom war erst recht nichts zu merken, was allerdings der ausgelassenen Feierlaune der vielen Menschen keinen Abbruch tat. Überall hielten sie sich jetzt an den Händen und sangen und tanzten im Reigen. Und auch Benjamin befand sich auf einmal in einem Kreis singender und tanzender Gottesdienstbesucher. Bis ihn Janus in der Menge verschwinden sah.
Der Legionär setzte sich enttäuscht auf eine Stufe vor der Säulenhalle. Er hätte so gerne noch länger mit Benjamin geredet. Er fühlte sich elend, noch nie war ihm so heiß gewesen. Man sollte vielleicht doch nicht bei einer solchen Hitze in einem Kettenhemd tanzen. Hoffentlich hatte ihn keiner der anderen Legionäre gesehen. Gerade wollte er seinen Helm wieder vorschriftsmäßig auf seinem Kopf platzieren, da wurde ihm von hinten auf die Schulter getippt. Als er sich umdrehte, standen zwei ranghöhere Legionäre vor ihm. Sofort sprang er auf und versuchte den Helm wieder aufzusetzen. „Mitkommen!“, befahlen die Offiziere. „Wieso mitkommen?“, stammelte Janus erschrocken. „Wie es aussieht, hast du deinen Dienst nicht ordentlich versehen.“ „Ich hab mich doch nur ein wenig ...“ „Keine Widerrede, das verschärft nur die Strafe!“ Janus wusste genau, dass es keinen Sinn hatte, sich zu widersetzen. Manche waren eben auch neidisch auf den Diener des Zenturios – denn als solcher war man von niederen Diensten wie etwa dem Reinigen der Aborte befreit – und warteten förmlich darauf, ihn wegen eines Vergehens beim Chef anzuschwärzen. Es half nichts, er musste den beiden Legionären in die Burg folgen, wo man ihn vorerst ins Verlies steckte, weil der Zenturio sich noch im römischen Bad aufhielt. Da saß er nun in dem dunklen Kellerloch. Er hätte sich ohrfeigen können. Warum hatte er sich nur von diesem Freudentaumel anstecken lassen?
Wieder überkam ihn Heimweh, nach seinen Eltern und Geschwistern. Wie gerne hätte er jetzt alles hinter sich gelassen. Den elenden Drill auf dem Kasernenhof. Die stundenlangen Kampfübungen, die ihm der Zenturio zur Leibesertüchtigung verordnet hatte. Schließlich sollte sein Diener ihn bei einem Angriff standesgemäß verteidigen können. Auf einmal ging ihm auf, wie satt er eigentlich dieses Leben hatte, das nur aus Gehorsam und Pflichterfüllung bestand. Wie schön wäre es jetzt, unabhängig zu sein wie Benjamin, der ein freies Leben in den Bergen führte. Wie langweilig und hohl kamen ihm auf einmal die Theatervorstellungen vor, zu denen er den Zenturio manchmal begleitete. Wie abstoßend erschienen ihm die brutalen Gladiatorenkämpfe, die Saufgelage und Orgien, von denen er den Zenturio mehr als einmal betrunken in die Burg hatte schleppen müssen. Feste, bei denen nicht nur Bacchus, dem Gott des Weins, sondern auch Venus, der Liebesgöttin, ausschweifend gehuldigt wurde. Eine tiefe Traurigkeit und Müdigkeit überkam ihn. Er legte sich auf den Boden und war auf einmal eingeschlafen.
Benjamin war am frühen Abend noch einmal zu der Stelle zurückgekommen, wo er Janus getroffen hatte, ohne diesen dort noch vorzufinden. Wahrscheinlich hatte der Soldat seinen Dienst bereits beendet. Schade. Er hätte sich so gerne einmal mit ihm verabredetet. Ein römischer Legionär, der Aramäisch sprach, sogar ein wenig die alte Bibelsprache Hebräisch beherrschte, der sogar bei einem jüdischen Gottesdienst mitgesungen und -getanzt hatte, das war ihm bisher noch nicht begegnet. Er bedauerte wirklich, dass er nicht schon früher hierher zurückgekommen war. Aber er hatte so viele Freunde getroffen, die er lange nicht gesehen hatte, Verwandte, die von weit her zum Fest angereist waren und mit denen es so viel zu Reden gab. So war die Zeit wie im Flug vergangen. Morgen musste er wieder zurück nach Bethlehem. Aber er hatte die Zeit in Jerusalem in vollen Zügen genossen: die Gottesdienste im Tempel, die Bäder in der Menge, die Lieder, die Musik, die Tänze. Doch freute er sich auch wieder auf zu Hause: auf die gemeinsame Arbeit mit seinen Brüdern, die Einsamkeit in den Bergen. Wenn jetzt bald die Regenzeit begann, würde alles über Nacht wieder grünen und blühen. Dann konnten die Herden aus den höher gelegenen Gebieten wieder auf die Felder rund um Bethlehem gebracht werden. Viel Arbeit wartete also auf ihn. Arbeit, auf die er sich freute. Er verließ den Tempelplatz und machte sich auf den Weg zu seinem Onkel. Noch einmal durfte er dessen wunderbare Gastfreundschaft genießen, das köstliche Essen, noch eine Nacht in der beeindruckenden Stadt Jerusalem verbringen, deren quirlige, laute Atmosphäre selbst im Kidrontal noch zu spüren war.

4 Ein ungewöhnlicher Auftrag
Knarrend öffnete sich die schwere Zellentür. Janus erwachte und sprang auf. Wo war er? Dann aber fiel ihm alles wieder ein. „Der Zenturio will dich sprechen!“ Ein Legionär trat ein und machte eine Kopfbewegung in Richtung Tür. Stumm schritt Janus hinter ihm durch die Gänge der Burg. An manchen Stellen brannten Fackeln. Es drang kein Licht durch die Fensteröffnungen in die Gänge, also musste es draußen schon dunkel sein. Hatte er so lange geschlafen? Es ging einige Treppen hinauf. Dann traten sie in den Raum, in dem der Zenturio sich aufhielt, wenn er offizielle Dinge zu erledigen hatte. Einige Öllampen brannten und erleuchteten den Raum notdürftig. „Salve, Zenturio!“, grüßte Janus schüchtern. Das Gesicht des Zenturios war vom Wein gerötet. Er sprang auf und schrie wütend: „Schweig, du Elender!“ Ein breites, schadenfrohes Grinsen huschte über das Gesicht des Legionärs, der Janus gebracht hatte, was der Zenturio aber wohl bemerkte. „Verschwinde!“, brüllte er nun den Wachhabenden an, der sofort das Weite suchte. Noch nie hatte Janus seinen Chef so wütend gesehen, und er befürchtete das Schlimmste. „Wie kannst du es wagen, den Helm während des Dienstes abzunehmen, hä? Außerdem haben dich die Kameraden sitzend vorgefunden!“ „Es war so heiß ...“ „Ich sollte dich ins eiskalte Germanien strafversetzen lassen!“, schnaubte der Zenturio und stapfte wie ein Tier im Raum hin und her. „Janus, du enttäuschst mich!“ Seine Stimme klang jetzt fast weinerlich. Er ließ sich auf den extra für ihn hergestellten Stuhl fallen. Normale Sitzmöbel wären für sein Gewicht nämlich nicht geeignet gewesen. „Hast du sonst nichts zu deiner Verteidigung zu sagen?“ Janus fühlte sich erleichtert. Offensichtlich hatte man nichts von seinem Gespräch mit dem Hebräer und seinem Tanz mitbekommen. „Ich fühlte mich so elend und krank“, stammelte er. „Du fühltest dich krank? Dann melde es gefälligst! Niemand muss Dienst tun, wenn er ernsthaft erkrankt ist!“ Und dann fuhr er sichtlich erleichtert und im Ton milder fort: „Wie geht es dir jetzt?“ Janus war überrascht über diese Wendung. Sollte er wirklich ohne eine Strafe davonkommen?
Aber Janus war nicht dumm. Er wusste auch, dass der Zenturio auf ihn angewiesen war. Das, was sein Chef hier abzog, war nun wirklich nicht schwer zu durchschauen. „Ich ... ich fühle mich immer noch nicht so gut“, sagte Janus mit schwacher Stimme, und das war keineswegs gelogen. „Aber was soll ich jetzt mir dir tun, hä?“ Der Zenturio goss sich aus einer Karaffe Wein in seinen Becher. „Ich werde dich für einige Tage strafversetzen müssen“, sagte er schließlich in einem Ton, der verriet, dass sein Zorn bereits verraucht war. „Ich habe einen Spezialauftrag für dich.“ Er trank wieder einen Schluck, bevor er weiterredete: „Es sind Unruhen im Gange. Die Sikarier, diese berüchtigten Dolchmänner, haben in Galiläa zwei Römer ermordet. Der Prokurator des Kaisers hat mich für nächste Woche in seine Festung nach Cäsarea bestellt, um die Lage mit mir zu besprechen.“ Der Zenturio trank einen weiteren Schluck. Man konnte sehen, dass es ihm wirklich unangenehm war, jetzt ans Mittelmeer reisen zu müssen. „Es wäre natürlich hilfreich, wenn ich ihm handfeste Hinweise auf die Aktivitäten der Zeloten liefern könnte, die im Moment hier ziemlich aktiv sind.“ Der Zenturio wusste, dass er in der Gunst des Prokurators, der eine gute Verbindung zum Kaiser in Rom hatte, steigen musste. Es stand wirklich nicht zum Besten mit ihm. Dass er dem Wein und auch sonstigen Genüssen hoffnungslos ergeben war, war längst kein Geheimnis mehr. „Du wirst dich einmal für ein paar Tage in den Dörfern umhören. Hören, was die Leute so reden. Vor allem in der Umgebung von Bethlehem sollen die Zeloten geheime Treffen abhalten. Man weiß nichts Genaues, aber du wirst es sicher herausfinden.“ „Aber wie soll ich das anstellen?“ „Du gehst in Zivil, als Hebräer verkleidet.“ „Ich soll als Hebräer ...?“ „Warum denn nicht? Ihre Sprache sprichst du ja. Es wäre doch gelacht, wenn ich dem Prokurator keine Hinweise liefern und wir zuschlagen könnten, bevor sie ihre Anschläge ausführen.“ Janus war entzückt über diese „Strafversetzung“. Ein paar Tage ohne Kasernendrill, etwas Besseres konnte ihm gar nicht passieren. „Morgen früh vor Sonnenaufgang verlässt du die Burg, zu Fuß natürlich.“ „Zu Fuß?“ Janus stöhnte. „Es wäre zu auffällig, mit dem Pferd zu reisen!“ „Ich könnte einen Esel nehmen.“ „Meinetwegen, nimm einen der Packesel des Garnisonskochs. Und zu niemandem ein Wort davon! Hier hast du ein paar Dinare. Besorg dir entsprechende Kleidung!“ Janus nahm das Geld lächelnd entgegen. „Du hast fünf Tage Zeit. Und untersteh dich, ohne hilfreiche Hinweise hier zu erscheinen!“ Damit wandte er sich wieder dem Wein zu. „Ich werde dich nicht enttäuschen“, sagte Janus und verließ den Raum.

5 Ein unerwartetes Zusammentreffen
Blökend drängten sich die Schafe und Ziegen um den hölzernen Wassertrog. Immer wieder drehte Benjamin an der hölzernen Kurbel, um das wertvolle Nass aus der Tiefe zu ziehen. Dann goss er es in den Trog. In der Nacht hatte es geregnet. Es sah fast so aus, als würde die Regenzeit in diesem Jahr früher als sonst einsetzen. Schon zeigte sich erstes Grün zwischen den verdorrten Halmen. Vielleicht konnten sie die Herden in diesem Jahr früher als sonst in die Nähe der Stadt bringen.
Der junge Hirte war seit einigen Tagen aus Jerusalem zurück. Nach dem lauten Fest genoss er die Ruhe in der Einsamkeit der atemberaubend schönen Hügellandschaft. Da die Herde nun kleiner war, hatte er die Tiere schnell getränkt. Nun musste er nur noch alle in den Pferch treiben. Weil ihm die beiden Hunde dabei halfen, war auch diese Arbeit schnell getan. Bald prasselte ein kleines Feuer an der Lagerstelle, über dem ein Kessel mit Linsen kochte.
Langsam setzte die Dämmerung ein. Benjamin machte es sich am Feuer bequem, nahm seine Flöte und begann zu spielen. Er war so in die Musik vertieft, dass er nicht bemerkte, wie sich ein Mann auf einem Esel dem Lagerplatz näherte. Nicht einmal die Hunde, die von der Arbeit müde waren und schliefen, hatten den Reisenden bemerkt. Als er das Gatter erreicht hatte, stieg er ab, band seinen Esel fest und schritt auf das Feuer zu. Benjamin erschrak, als der Fremde plötzlich vor ihm stand. „Du spielst gut“, sagte der mit einem Lächeln. „Janus!“, rief Benjamin überrascht aus, „was machst du denn hier?“ Dabei sprang er auf und starrte den Römer an, als sei er ein Gespenst. „Darf ich dir ein wenig Gesellschaft leisten?“ Auch Janus war im ersten Moment überrascht gewesen, seinen neuen israelitischen Freund hier zu treffen; es gelang ihm aber, dies gut zu verbergen. „Was ... wieso ... ja klar, setz dich zu mir.“ Janus wies auf das Schaffell, auf dem er eben gesessen hatte. „Warte, ich hole noch eine weitere Sitzgelegenheit.“ Er eilte in sein Zelt und kam mit einem zweiten Fell wieder. Jetzt erst bemerkte er, dass Janus gar nicht mehr wie ein Legionär gekleidet war. „Wie siehst du eigentlich aus? Hast du deinen Dienst quittiert?“ „Nein“, lachte Janus, „die Verkleidung gehört zu einem Spezialauftrag, zu dem mich der Zenturio verdonnert hat.“ „Spezialauftrag?“ „Ach, das ist so eine Geschichte, aber ich erzähle sie dir gerne. Sie hat mit unserer Begegnung auf dem Fest zu tun.“ „Da bin ich aber gespannt. Wie lange bleibst du?“ „Wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich gerne über Nacht hierbleiben.“ „Klar, gar kein Problem. Das Zelt ist groß genug und die Linsen reichen auch für zwei.“ „Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich freue, dich hier getroffen zu haben.“ Benjamin spürte, dass die Freude des Römers echt war. Aber konnte er ihm wirklich vertrauen?
Später, als sie das Linsengericht miteinander geteilt hatten, saßen die beiden noch lange am Feuer. Janus erzählte von seiner Festnahme auf dem Tempelplatz und Benjamin davon, wie er versucht hatte, ihn noch einmal zu antreffen. Auch seinen Spezialauftrag verschwieg Janus seinem neuen Freund nicht. „Mach dir keine Sorgen, ich werde schon nichts herausfinden“, beendete er listig seinen Bericht. „Außerdem nehme ich nicht an, dass du zu den Zeloten gehörst.“ „Nein“, sagte Benjamin traurig, „ich gehöre nicht dazu.“ Und dann erzählte Benjamin von dem, was er von seinem Vater gelernt hatte und was er selber auch glaubte: dass es nur der Messias schaffen würde, das Königreich Gottes in Israel zu errichten, und dass jeder, der es mit Gewalt versuche, wie die Zeloten oder die besonders militanten Sikarier, damit scheitern würde. In dieser Nacht schlief keiner der beiden. Sie redeten bis in die frühen Morgenstunden. Janus wollte so viel erfahren von dem, was Benjamin glaubte, und hatte dazu unzählige Fragen. Und auch Benjamin interessierte sich für das, was Janus in Rom erlebt hatte, wollte wissen, wie seine Eltern zum jüdischen Glauben gekommen waren und was ihn dazu bewogen hatte, Legionär zu werden. Und als die Sonne aufging und sich die beiden voneinander verabschiedeten, fing das Licht des Glaubens auch in Janus’ Herz wieder an zu brennen.

6 Levi in Gefahr
Wochen vergingen. Die Regenzeit war fast schon vorüber und der Winter, der in den Bergen von Judäa oft empfindlich kalt werden konnte, stand vor der Tür. Wieder einmal hatte Benjamin eine Lieferung Schafe und Ziegen bei seinem Onkel Shimon abgeliefert. Eine gute Gelegenheit, Janus zu treffen, so hoffte er zumindest. Seit jenem Abend, als der Römer unvermutet am Lagerplatz aufgetaucht war und sie die ganze Nacht miteinander geredet hatten, hatten sich die beiden nicht mehr gesehen. Es war bereits später Nachmittag, als Benjamin sich von seiner Tante verabschiedete und auf den Weg zur Burg Antonia hinauf machte. Er wusste seit jener Nacht, dass Janus dort einquartiert war. Als er vor dem Eingang der Burg stand, der von einigen Legionären streng bewacht wurde, sah er sofort, dass es unmöglich sein würde, dort hineinzukommen. Da fiel ihm ein, dass Janus aus seinem Fenster auf den Vorhof des Tempels schauen konnte. Auch das hatte er ihm erzählt. Vielleicht könnte er vom Tempelplatz aus irgendwie mit ihm in Kontakt kommen, vorausgesetzt, dass sein Freund überhaupt in der Burg war. Bald befand sich Benjamin auf dem Platz, auf dem sich an diesem Nachmittag nur wenig Menschen tummelten. So fiel es auch kaum auf, dass er dauernd zur Burg hochschaute. Da, bewegte sich da nicht etwas an einem der Fenster? Keine Ahnung, ob das wirklich Janus war. Es gab so viele Fenster, und vielleicht wohnte sein Freund ja auch in einem der anderen Türme, die noch weiter entfernt waren.
Mutlos setzte Benjamin sich auf eine Stufe, die zu einer der Säulenhallen emporführte. Wie gerne hätte er Janus wiedergetroffen. Eine Zeitlang saß er da starrte deprimiert vor sich hin. „Es hat keinen Sinn, hier zu warten“, dachte er schließlich und stand auf. Er ging über den Platz, schaute noch einmal zur Burg hoch, sah jedoch nichts. Dann verließ er den Tempelvorhof und betrat die Gassen der Oberstadt, wo ihm zwei Legionäre auf Pferden entgegenkamen. Er trat zur Seite, um sie vorbeizulassen, und bemerkte sodann, dass einer von ihnen Janus war. Der andere war klein und dick und konnte sich kaum auf dem Pferd halten. Das musste der Zenturio sein, den er ja auch schon mal gesehen hatte, der aber offensichtlich mal wieder zu tief in den Becher geschaut hatte. Janus’ und Benjamins Blicke trafen sich. Aber Benjamin merkte sofort, dass sich sein Freund jetzt nicht zu erkennen geben konnte. „Zur Seite, du Bengel!“, lallte der Zenturio und hätte Benjamin fast niedergeritten. Als sie ihn passiert hatten, schaute sich Janus unauffällig nach seinem Freund um und gab ihm unauffällig ein Zeichen. Dann ritten sie den Weg zur Burg hinauf. Benjamin ging zum Tempel zurück und wartete an der Stelle, an der sie sich zum ersten Mal begegnet waren, auf seinen Freund. Es dauerte nicht lange, dann sah er ihn über den Platz auf ihn zukommen. Benjamin stand auf und ging seinem Freund entgegen. Wie freute er sich, ihn wiederzusehen. Aber Janus blieb nur einen Moment vor ihm stehen. „Es ist besser, wenn man uns nicht zusammen sieht!“, flüsterte er. Benjamin verstand. „Wir treffen uns bei meinem Onkel hinter seinem Haus in den Ölgärten“, erwiderte er hastig. Dann ging er weiter, ohne sich umzuschauen.
Es dämmerte bereits, als sich die Freunde im Schatten einiger uralter knorriger Olivenbäume trafen. Sie umarmten sich herzlich und setzten sich. „Was ist passiert?“, fragte Benjamin besorgt. „Die politische Lage ist äußerst angespannt“, begann Janus ernst. „Hat das mit dem Gebot des Kaisers Augustus zu tun?“ „Ich denke schon. Die Leute wissen ja, dass der Kaiser diese Volkszählung durchführt, um noch mehr Steuern einzunehmen, und wollen sich das nicht gefallen lassen. Ganz Israel scheint unterwegs zu sein, um sich in die Listen eintragen zu lassen“, erklärte Janus. Benjamin wusste Ähnliches zu berichten: „Das ganze Land ist in Aufruhr. Du glaubst gar nicht, was bei uns in Bethlehem los ist. Es gibt kein freies Zimmer mehr in den Herbergen. Und jetzt warten alle auf den Provinzialzensus, der mit seinen Beamten aus Rom längst hätte eintreffen sollen.“ Janus nickte mit Sorgenmiene. „Die Beamten in Rom haben die Lage wohl völlig falsch eingeschätzt. Die kommen mit der Zählung einfach nicht nach.“ „Es wird von Tag zu Tag schwieriger, die vielen Leute zu versorgen. Bei uns zu Hause ist auch alles belegt; ich wusste gar nicht, dass meine Verwandtschaft so groß ist.“ Benjamin lachte: „Ein Onkel aus Galiläa hat sich sogar im Stall ein Lager aus Stroh hergerichtet. Offensichtlich schläft er da blendend. Ich bin froh, dass ich draußen bei den Schafen bin. Da hab ich wenigstens meine Ruhe.“ „Du bist zu beneiden. Du bist ein freier Mann. Ich hab das Leben als Legionär so satt. Der Zenturio hat mich jetzt zu einer Spezialtruppe eingeteilt, die gegen oppositionelle Kräfte vorgehen soll. Morgen soll zum Beispiel ein geheimes Treffen der Zeloten in einer Höhle nahe Bethlehem stattfinden, und wir sollen die Aufständischen da festnehmen.“
Benjamin bekam einen Schreck und wurde plötzlich kreidebleich. Er dachte sofort an seinen Bruder. Was, wenn er bei diesem Treffen dabei sein würde? Aber das konnte er Janus doch unmöglich sagen. „Was passiert denn mit den Leuten, die ihr da festnehmt?“ „Die kommen vor Gericht, ich denke, ihnen droht sogar die Kreuzigung.“ Benjamin war entsetzt. „Aber an solchen Einsätzen kannst du dich doch nicht beteiligen!“ „Was soll ich denn machen? Ich bin ein römischer Legionär. Weißt du, wie man bei uns mit Befehlsverweigerern verfährt?“ Benjamin sprang auf. „Das kann nicht gut gehen!“, stieß er aus, „aber ich wollte es nicht wahrhaben. Ich dachte, ich könnte mit einem Römer befreundet sein, der auch an den Gott Israels glaubt.“ Jetzt erhob sich auch Janus. „Was regst du dich so auf? Du hast doch mit den Zeloten überhaupt nichts zu tun. Das sind doch Kriminelle, oder nicht?“ „Aber sie sind Angehörige meines Volkes, auch wenn ich nicht in Ordnung finde, was sie tun.“ „Ich hätte es dir überhaupt nicht erzählen dürfen, das war wirklich ein Fehler“, sagte Janus verärgert. Eine Zeitlang saßen sie schweigend nebeneinander. „Es tut mir leid, dass ich mich so aufgeregt habe“, sagte Benjamin auf einmal versöhnlich, „wir wollen uns wegen einer solchen Sache doch den Abend nicht verderben.“ Benjamin  wusste, dass er jetzt klug sein musste, um seinen Bruder nicht in Gefahr zu bringen. Zugleich überkam ihn aber eine große Traurigkeit. Er hätte nicht gedacht, dass diese aufkeimende Freundschaft so schnell auf eine so harte Probe gestellt werden würde. Sie sprachen jetzt nur noch über Belanglosigkeiten, und im Laufe des Abends spürte auch Janus, dass sich irgendetwas verändert hatte. Und auch er hatte Zweifel, ob er die Freundschaft mit Benjamin wirklich würde aufrechterhalten können.
Benjamin machte sie am nächsten Tag sehr früh auf. Er musste so schnell wie möglich mit Levi reden. Seit jenem Abend, als ihm sein Bruder von seiner Sympathie für die Aktivitäten der Zeloten erzählt hatte, hatten sie nicht mehr über dieses Thema gesprochen. Nicht auszudenken, wenn sein Bruder bei diesem Treffen der Extremisten verhaftet würde. Hoffentlich würde er ihn noch zu Hause antreffen. Endlich tauchten die ersten Häuser der geschichtsträchtigen Stadt Bethlehem auf. Hier war tausend Jahre zuvor der legendäre König David geboren worden. Das kleine, beschauliche Städtchen schien an diesem Morgen mit einer Überfülle von Menschen bevölkert zu sein, die alle wegen der Steuerschätzung in ihre Heimatstadt gekommen waren. Die Steuern drückten die Menschen hart. Als frommer Jude hatte man ohnehin schon den zehnten Teil der landwirtschaftlichen Erzeugnisse an die Priester des Tempels zu entrichten, zusätzlich fiel auch noch die Tempelsteuer an. Und als ob diese religiösen Steuern nicht schon hoch genug gewesen wären, sollte ihnen jetzt eine noch größere Steuerlast von den Römern aufgebürdet werden. Kein Wunder, dass die Stimmung gereizt, ja explosiv war und an allen Ecken hitzige Diskussionen geführt wurden. In gewisser Weise konnte Benjamin die Zeloten sogar verstehen, zu denen auch einige der frommen Pharisäer gehörten. Diese hielten es sogar für abscheulichen Götzendienst, die geforderte Steuer zu entrichten, weil auf dem römischen Silberdenar der Kopf des verhassten römischen Gott-Kaisers Augustus abgebildet war. Aber was blieb den von der Weltmacht unterdrückten Menschen anderes übrig, als zu zahlen, denn die Besatzer fackelten nicht lange.
Endlich war Benjamin an seinem Elternhaus angekommen. Als er eintrat, war seine Mutter gerade dabei, auf der offenen Feuerstelle Brotfladen zu backen. Sie war erstaunt, ihren Sohn schon so früh zu sehen. „Benjamin, mit dir habe ich noch gar nicht gerechnet. Hier, möchtest du etwas essen? Du hast bestimmt Hunger.“ „Nein, Mutter. Kannst du mir sagen, wo Levi ist?“ „Er wollte sich heute mit irgendwelchen Freunden treffen.“ „Was, mit welchen Freunden? Weißt du, wo?“ „Er hat mir nichts Genaues gesagt. Aber vielleicht weiß Yehuda ja mehr. Er arbeitet draußen an der Scheune.“ „So ein Mist!“, murmelte Benjamin. „Aber was ist denn los?“ Die Mutter, die neben der Feuerstelle gehockt hatte, stand auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Mach dir keine Gedanken. Ich will einfach nur mit ihm sprechen“, sagte Levi und rannte dabei nach draußen, wo er mit Yehuda zusammenstieß.
„He, langsam, junger Mann. Du hast es aber eilig!“ „Weißt du, wo Levi ist?“ „Wieso, ist was passiert?“ „Nein, sag mir einfach nur, wo er zu finden ist!“, forderte Benjamin ungeduldig. „Er sagte nur, dass er irgendwelche Freunde treffen will.“ „Wo könnte das sein?“, fragte Benjamin besorgt. „Er sagte nur, es sei nicht weit.“ „Danke, Yehuda! Ich bin gleich wieder zurück!“ Benjamin hatte eine Idee. Es gab da diese Höhle, in der sie manchmal als Kinder gespielt hatten. Der Eingang war durch dichtes Gestrüpp ziemlich verdeckt. Diese Höhle wäre ein ideales Versteck für ein geheimes Treffen, denn sie lag in einem steil abfallenden felsigen Flusstal, in dem ziemlich viele Felsbrocken lagen. Sollte dort das geheime Treffen der Zeloten stattfinden? Da fiel ihm ein, dass Janus ja auch von einer Höhle gesprochen hatte.

7 Das Ende einer Freundschaft?
Er hatte die Stadt schnell hinter sich gelassen. Die Angst um seinen Bruder mobilisierte bei ihm ungeheure Kräfte. In Rekordzeit hatte er den Eingang des Tals erreicht. Jetzt musste er nur noch ein Stück über Steine und Felsbrocken klettern, dann würde er an der Höhle sein. Schweiß rann ihm aus jeder Pore seines Körpers. Schwer atmend stand er schließlich vor dem Eingang der Höhle. Er sah, dass das Gras niedergetreten und das Gestrüpp teilweise zur Seite abgerissen worden war. Dann konnte er auch Fußabdrücke sehen. Sie mussten hier sein. Einen Moment blieb er am Eingang stehen und lauschte. Man musste in der Höhle ein Stück weit hochsteigen, dann kam man zu einem größeren Raum, der nach oben hin ein wenig offen war und in den Tageslicht hineinfiel.
Wie oft hatten sie hier als Kinder gespielt, waren an den steilen Wänden hochgeklettert und hatten sich versteckt. Benjamin ging weiter. Jetzt hörte er Stimmengewirr. Kein Zweifel, sie waren da. Weiter, schneller! Hatte er nicht gerade hinter sich Geräusche gehört? Waren ihm die Häscher vielleicht schon auf den Fersen? Dann sah er die Männer. Levi saß mit dem Rücken zu ihm, die anderen kannte er nicht. Noch hatten sie ihn nicht bemerkt. Sie fühlten sich hier offensichtlich ziemlich sicher. „Levi! Schnell! Ihr müsst verschwinden! Jeden Moment können die Römer hier sein!“ Die Männer sprangen erschrocken auf. „Benjamin!“, rief sein Bruder erschrocken. „Was machst du denn hier?“ „Kommt schnell!“, rief Benjamin erneut. „Jemand hat euer Treffen verraten!“ Endlich setzten sich die Männer in Bewegung. „Ja, kommt!“, rief Levi, „wir können Benjamin vertrauen!“ Dann kletterten die sechs Männer die Höhle herunter und rannten auf den Ausgang zu. Aber es war zu spät. Die Römer waren bereits da. Offensichtlich suchten sie nur noch nach dem Eingang der Höhle. Und es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis sie ihn gefunden hätten. „Still!“, ermahnte Levi die Männer. Keuchend blieben sie stehen und lauschten. Jetzt konnte man Stimmen vernehmen. Jemand rief etwas auf Latein. Kein Zweifel, das waren sie! „Hier können wir nicht raus“, flüsterte Benjamin, „wir müssen durch den Schacht hochklettern.“ Levi nickte und bedeutete den Männern, die sich hier nicht auskannten, wieder zurückzuklettern. „Leise!“, mahnte er, „passt auf, dass ihr keinen Stein lostretet.“ Aber da war es auch schon passiert. Ein Stein rollte dem Ausgang zu und blieb am Gestrüpp hängen. Die Stimmen wurden nun lauter. „Schneller!“, trieb Levi die anderen an, „sie sind schon hinter uns!“ Jetzt hatten sie den Versammlungsraum wieder erreicht. Benjamin, der der Jüngste und der Flinkste von allen war, kletterte voran. Als Kinder waren sie oft hier hochgeklettert. Aber würde er den Weg noch finden? Oben gab es eine kritische Stelle, so eng, dass sie sich als Kinder schon hatten durchzwängen müssen. Doch dann war Benjamin durchgeschlüpft und stand auf einem Felsvorsprung außerhalb der Höhle. Die Römer schienen inzwischen den Eingang der Höhle entdeckt zu haben. Denn man hätte sie sonst von hier oben sehen müssen. „Schneller!“, trieb Benjamin die Männer an. Jetzt kam der Zweite herauf, und bald darauf hatte es auch der Dritte der Zeloten geschafft. „Beeilt euch!“, hörte Benjamin von unten seinen Bruder rufen. „Sie werden gleich hier sein!“ Nun tauchte der Vierte auf. Plötzlich sah Benjamin zwei Legionäre vor der Höhle stehen. Warum waren sie ihnen nicht weiter gefolgt? Sie schauten nach oben und hatten sie nun entdeckt. Einer von ihnen rief etwas in die Höhle hinein. Endlich tauchte auch der fünfte Mann aus der Öffnung auf. „Schneller, macht schneller!“, trieb Benjamin zur Eile. Wo blieb nur sein Bruder? Warum kam er nicht heraus? Hatten sie ihn nun doch erwischt? „Levi, wo bleibst du?“ Benjamin kniete sich auf den Boden und sah den Kopf seines Bruders. „Er hält mich am Bein fest!“, ächzte er, „ich komme nicht weiter!“ Dann vernahm Benjamin eine Stimme, die ihm bekannt vorkam. Sie gehörte zu Janus. „Du entwischst mir nicht!“, hörte er ihn auf Aramäisch sagen. Inzwischen versuchten die beiden anderen Legionäre, den Felsen hochzuklettern. „Lauft da hoch! Schnell!“ Benjamin zeigte den Männern die Richtung, in die sie fliehen sollten, was sie dann auch taten. „Janus!“, rief Benjamin mit tränenerstickter Stimme in die Höhle. „Bitte lass ihn los! Bitte lass ihn laufen. Er ist doch mein Bruder!“ Als Janus die Stimme seines Freundes hörte, bekam er einen derartigen Schreck, dass er Levi sofort losließ. Nun konnte sich der Bruder blitzschnell aus dem Loch winden. „Du kennst diesen Legionär?“ Starr vor Entsetzen blieb Levi vor Benjamin stehen, obwohl die anderen beiden Legionäre ihnen schon bedrohlich nahe gekommen waren. „Und du kennst diese Zeloten?“ „Verräter!“, schnaubte Levi voller Abscheu und schüttelte den Kopf. Traurig kniete sich Benjamin auf den Boden: „Janus!“, stammelte er verzweifelt, es tut mir so leid!“ „Nichts tut dir leid, du Lügner! Du Zelot!“, hallte es dumpf von unten herauf. „Nein, Janus! Ich bin kein Zelot und mein Bruder ist es auch nicht!“ „Du elender Lügner! Und ich habe dir vertraut!“ Die Römer, die immer noch den Felsen hochzuklettern versuchten, waren nun zum Greifen nah. „Schnell!“, wies Levi seinen Bruder an, „wir müssen weiter!“ Dann zog er Benjamin von der Öffnung der Höhle fort.
Sie konnten alle entkommen. Levi wusste, dass ihm sein Bruder das Leben gerettet hatte. Aber es war eine bittere Gewissheit. Er konnte es nicht fassen, dass Benjamin sich mit jemandem eingelassen hatte, der zu den Todfeinden Israels gehörte. Genauso wenig verstand der Lebensretter seinen Bruder. Glaubte er wirklich, das Königreich Gottes mit Gewalt herbeiführen zu können? Noch vor ein paar Tagen hatte sein Vater vom Messias gesprochen, der, wenn er komme, alles Bekriegen und Blutvergießen beenden und ein ewiges Reich des Friedens und der Liebe aufrichten werde. Aber Levi hatte dazu nur verächtlich gegrinst. Zum Glück hatte es der Vater nicht bemerkt. Benjamin aber hatte es traurig gemacht. Und auch der Tag, an dem alle entkommen konnten, war für ihn kein fröhlicher Tag gewesen. Denn an diesem Tag hatte er gleich zwei Freunde verloren: seinen Bruder, der immer auch sein bester Freund gewesen war, und Janus.
Es war ein kalter, ungemütlicher Morgen. Benjamin saß zusammen mit den anderen Hirten, die vor einigen Tagen von ihren Sommerweiden hierher in die Nähe Bethlehems gekommen waren, am Feuer. Er kannte diese Hirten alle. Einige von ihnen waren Angestellte seines Vaters, andere hüteten die Herden anderer Besitzer. Es waren raue, wortkarge Gesellen, die ihr ganzes Leben in der freien Natur verbracht hatten. An diesem Morgen aber gaben sie sich nicht wortkarg, sondern gesprächig. Sehr gesprächig sogar. Und an diesem Morgen war Benjamin nicht traurig, sondern glücklich, sehr glücklich sogar. Denn in der letzten Nacht war hier ein Wunder geschehen. Etwas, das sie immer noch nicht fassen konnten, über das sie nun schon seit Stunden redeten und das sie die ganze Nacht hindurch hellwach gehalten hatte.

8 Das Wunder
Sie waren noch nicht lange wieder zurück, hatten das Feuer aber wegen des kalten Morgens noch einmal entzündet. Und nun wärmte es sie und ließ in der Morgendämmerung ihre glücklichen Gesichter aufleuchten. „Der eine Engel war besonders schön!“, sagte Bartimäus. „Welchen meinst du? Es waren doch so viele“, fragte Benjamin. „Na, der leuchtende, der hier direkt neben uns stand.“ „Der, der sagte, dass wir keine Angst haben sollten, weil uns der Retter geboren sei – meinst du den?“ „Genau den. Der uns erklärt hat, wo wir das Kind finden werden. In Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“ „Ich konnte gar nicht hinschauen, so fürchtete ich mich“, sagte Ruben. „Aber als sie das Lied sangen, da hast du doch hingeschaut.“ „Ja, da schon. Wenn ich mir doch nur die Melodie gemerkt hätte.“ „Aber den Text hast du doch behalten?“ „Oh ja“, schwärmte der Alte und erhob feierlich seine Stimme: „Gott ihm Himmel soll geehrt werden und auf der Erde wird Friede sein, und bei allen Menschen, an denen Gott seine Freude hat.“ „Kaum zu glauben, dass nun Friede auf Erden sein wird!“, sagte Benjamin begeistert. „Kaum zu glauben, aber wahr!“, bekräftigte Ruben.
Am nächsten Tag war Benjamin bereits mittags wieder aufgebrochen, um Janus zu suchen. Jetzt stand er in der blassen Abendsonne vor der Burg Antonia und fror, weil es kalt war und weil er die ganze Nacht nicht geschlafen hatte. Vor dem Eingang standen zwei gelangweilte Legionäre. Mutig ging Benjamin auf sie zu. „Ich möchte Janus sprechen!“ Aber sie verstanden ihn natürlich nicht. „Janus!“, sagte er noch einmal. „Ah, Janus!“, wiederholte einer von ihnen, wies dann in den Innenhof und lachte. Und tatsächlich, da saß der junge Römer in der Wintersonne. Als er Benjamin sah, stand er auf. Erstaunt schaute er seinen Freund an. „Er ist jetzt endlich da! Der Retter der Welt ist geboren!“, rief  Benjamin begeistert zu ihm herüber. Und man konnte sehen, wie seine Augen dabei leuchteten.

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